3.3
Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital
Der Übergang der Großbanken vom Vermittler im Wertpapierkauf und -verkauf ihrer Kunden zum Wertpapiergeschäft und zur Spekulation auf eigene Rechnung und Gefahr und zur „Beteiligung“ am Aktienkapital der Industrieunternehmen durch den Kauf eines größeren „Aktienpakets“ hatte eine bedeutende Veränderung im Verhältnis zwischen den Banken und der Industrie und vor allem zwischen den Großbanken und der Großindustrie zur Folge. Die Verfügung über einen verhältnismäßig großen Prozentsatz oder die Mehrheit der Aktien eines Industrieunternehmens gibt dem Besitzer einen beherrschenden Einfluß auf die Leitung des Unternehmens.
Die Aktienmehrheit kann bei 40 Prozent und weniger liegen, wenn der Aktienbesitz stark zersplittert ist, das heißt sich die Aktien in den Händen vieler Aktionäre befinden, die die Unkosten der Teilnahme an der Generalversammlung scheuen, also dort nicht mit ihrer Stimme vertreten sind. Hier liegt auch, wie Lenin schon bemerkt, die Bedeutung der kleinen Aktien – zum Beispiel 100- und 50-Euro-Aktien – für die Vorherrschaft der Großaktionäre, die dazu noch mit der Lüge bemäntelt wird, daß das kapitalistische Eigentum „demokratisiert“ würde. „In Wirklichkeit aber zeigt die Erfahrung, daß der Besitz von 40% der Aktien genügt, um die Kontrolle über eine Aktiengesellschaft zu haben, denn ein gewisser Teil der zersplitterten Kleinaktionäre hat in der Praxis gar nicht die Möglichkeit, an den Generalversammlungen teilzunehmen usw. Die ‚Demokratisierung‘ des Aktienbesitzes, von der bürgerliche Sophisten und opportunistische ,Auch-Sozialdemokraten‘ eine ,Demokratisierung des Kapitals‘, eine Zunahme der Rolle und Bedeutung der Kleinproduktion usw. erwarten (oder zu erwarten vorgeben), ist in Wirklichkeit eines der Mittel, die Macht der Finanzoligarchie zu vermehren.“62
Die großen Aktiengesellschaften der Industrie zählen heute 100 000 bis 200 000 Aktionäre. Das gilt auch für die Aktienbanken.
Die Majorität einer Aktiengesellschaft kann die Bank erreichen, auch ohne die dazu notwendigen Aktien zu kaufen. Das ist dann der Fall, wenn die Kleinaktionäre, die nicht zur Generalversammlung gehen, ihre Aktien bei der Bank deponieren und diese beauftragen, dort ihre Interessen zu vertreten. Die Bank übt dann das Depotstimmrecht aus und kann so in den Besitz der Aktienmehrheit gelangen.
Wie die Großbanken Einfluß auf profitable industrielle Großunternehmen gewinnen möchten, so sind umgekehrt die industriellen Großunternehmen an der Einflußnahme und damit an der „Beteiligung“ an den Großbanken interessiert. Dieses Interesse ist vor allem auf den dauernden Kreditfluß für das Unternehmen gerichtet. Daher schicken die Industrie-Aktiengesellschaften mit dem Erwerb eines „Aktienpakets“ einer Großbank einen ihrer Direktoren in deren Aufsichtsrat oder Vorstand, und die Industrie- und Handelsunter-nehmen erwerben „Aktienpakete“ der Banken und entsenden ihre Vertreter in die Aufsichtsräte und Vorstände der Aktienbanken. Oftmals erfolgt diese gegenseitige Vertretung direkt durch einen Aktienaustausch. Auf diese Weise „entwickelt sich sozusagen eine Personalunion der Banken mit den größten Industrie- und Handelsunternehmungen, eine beiderseitige Verschmelzung durch Aktienbesitz, durch Eintritt der Bankdirektoren in die Aufsichtsräte (oder die Vorstände) der Handels- und Industrieunternehmungen und umgekehrt“63. Da die Großbanken mit vielen Industrie-und Handelsunternehmen solche Verbindung haben, sitzen ihre Direktoren gleichzeitig in mehreren Aufsichtsräten und Vorständen.
Bei dieser Personalunion von Großbanken und Großindustrieunternehmen handelt es sich um eine gegenseitige Interessenvertretung zur Gewinnung und Sicherung eines höchstmöglichen Profits. Diese Verbindung beschränkt sich nicht auf den Erwerb einer hohen Dividende wie bei der Masse der Aktionäre, sondern richtet sich vielmehr auf die Organisierung und Leitung des Profitgeschäfts. Daher gründeten die Banken, wie schon erwähnt, spezielle technische und ökonomische Forschungsinstitute, um den Unternehmen, an denen sie beteiligt sind, die günstigsten Voraussetzungen für die Verwertung des Kapitals zu verschaffen.
Ein zunehmend bedeutsamer Auftraggeber für die „Wirtschaft“, das heißt für die industriellen Großunternehmen, wurde der Staat. Er vergibt „öffentliche Aufträge“ von zum Teil enormem Umfang wie für den Fern- und Nahverkehr, das Bildungs- und Gesundheitswesen, den Wohnungsbau, vor allem aber für die Rüstung. Solche Aufträge wurden von den Regierungen und Regierungsämtern, teilweise auf Beschluß der Parlamente, vergeben. Die Verbindung zu den Regierungsstellen und zu den Parlamentariern beziehungsweise den Parteien wurde daher für die Banken und das Profitgeschäft von Bedeutung. Daher stellt Lenin fest: „Die ‚Personalunion‘ der Banken mit der Industrie findet ihre Ergänzung in der ‚Personalunion‘ der einen wie der anderen Gesellschaften mit der Regierung.“64 Sie ist auch ein Ausdruck für das Hinüberwachsen des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus.
Das Verwachsen von Bank- und Industriebankkapital bringt eine neue, höherentwickelte Form des kapitalistischen Monopols, das Finanzkapital, hervor.