Reproduktion und Zirkulation
des gesellschaftlichen Gesamtkapitals

1.
Gesellschaftliches Gesamtkapital und Gesamtprodukt

Wie bereits festgestellt wurde, bildet jedes Einzelkapital in den verschiedenen Bereichen der materiellen Produktion einen Teil des Gesamtkapitals. „Jedes einzelne Kapital“, schreibt Marx, „bildet … nur ein verselbständigtes, sozusagen mit individuellem Leben begabtes Bruchstück des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, wie jeder einzelne Kapitalist nur ein individuelles Element der Kapitalistenklasse. Die Bewegung des gesellschaftlichen Kapitals besteht aus der Totalität der Bewegungen seiner verselbständigten Bruchstücke, der Umschläge der individuellen Kapitale.“3 Wird vom gesellschaftlichen Gesamtkapital ausgegangen, dann muß außer dem kapitalistischen Produktionsprozeß, außer der produktiven Konsumtion, auch die wechselseitige Verflechtung aller Einzelkapitale, dann müssen auch die Zirkulation sowie die individuelle und gesellschaftliche Konsumtion der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse untersucht werden. Die kapitalistische Reproduktion erfaßt daher den Produktions- und Zirkulationsprozeß des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Das gesamte Kapital eines Landes weist eine bestimmte technische, wertmäßige und organische Zusammensetzung auf. Die durchschnittliche organische Zusammensetzung des Kapitals – wobei die Gewichtung der einzelnen Bereiche der materiellen Produktion mit unterschiedlicher Kapitalstruktur eine bedeutende Rolle spielt – erhöht sich im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung.4 Das Gesamtkapital ist in bestimmten Anteilen auf die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, auf den materiellen und den nichtmateriellen Bereich, auf die verschiedenen Zweige der materiellen Produktion (wie Industrie, Bauindustrie, Energiewirtschaft, Landwirtschaft usw.) verteilt.

Das Produktionsergebnis eines Jahres5 der vom gesellschaftlichen Gesamtkapital ausgebeuteten Masse der Lohnarbeiter ist das gesellschaftliche Gesamtprodukt, das sich als Warenkapital (W′) in den Händen der Kapitalistenklasse befindet. Aus dem Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit (konkrete, gebrauchswert­schaffende Arbeit und abstrakte, wertproduzierende Arbeit) beziehungsweise aus dem Doppelcharakter des kapitalistischen Produktionsprozesses (Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß) ergibt sich sowohl ein Doppelcharakter jeder einzelnen Ware als auch der in der gesamten Wirtschaft produzierten Warenmasse. Das gesellschaftliche Gesamtprodukt stellt daher eine Warenmasse dar, die einerseits eine bestimmte Gebrauchswertmenge und andererseits eine bestimmte Wertsumme verkörpert.

Wie der Wert jeder einzelnen kapitalistisch produzierten Ware, so gliedert sich auch der Wert der gesamten Warenmasse oder des gesellschaftlichen Gesamtprodukts in c + v + m. Das konstante Kapital (c) ist der Teil des Wertes, der den auf das Arbeitsprodukt übertragenen Wert der verbrauchten Produktionsmittel beziehungsweise des verbrauchten konstanten Kapitals darstellt. Die Wertteile variables Kapital und Mehrwert (v + m) bilden den durch die gesamte Jahresarbeit der Lohnarbeiter neu produzierten Wertteil, den Neuwert. Das variable Kapital ist davon der eine Teil des neugebildeten Wertes, der das Äquivalent für die gezahlten Arbeitslöhne beziehungsweise das verbrauchte variable Kapital darstellt. Der Mehrwert ist der andere Teil des Neuwerts, den sich die Kapitalistenklasse ohne Äquivalent aneignet und den sie entweder akkumuliert oder individuell verbraucht.

Die wertmäßige Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts widerspiegelt die Eigentums- und Klassenverhältnisse des Kapitalismus. Das Verhältnis zwischen Mehrwert und variablem Kapital, m : v, drückt das Klassenverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse aus. Der Mehrwert als Ziel der kapitalistischen Produktionsweise ist das Ergebnis der Verwertung des Kapitals, das heißt der kapitalistischen Ausbeutung. Die Steigerung der Ausbeutung – auf der Grundlage der Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität – ist das entscheidende Mittel, mit dem die Produktion und die Aneignung einer immer größeren Mehrwertmasse erreicht werden sollen. Der Arbeitsprozeß ist dabei dem Verwertungsprozeß, die Entwicklung der Produktivkräfte den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals unterworfen. Das Verhältnis m : v bildet die Mehrwertrate6. Sie drückt den Grad der Ausbeutung der Arbeiterklasse, der Nichteigentümer von Produktionsmitteln, durch die Klasse der Kapitalisten, der Eigentümer von Produktionsmitteln, aus.

Diese wertmäßige Zusammensetzung des Gesamtprodukts macht ferner deutlich, daß die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals die kapitalistischen Eigentums- und Klassenverhältnisse reproduziert. Demzufolge enthält das gesellschaftliche Gesamtprodukt beziehungsweise die gesamte Warenmasse der kapitalistischen Gesellschaft wie jede einzelne Ware die antagonistische Widersprüchlichkeit des Kapitalismus, insbesondere den Grundwiderspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung sowie den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital als historische Erscheinungsformen des allgemeinen Widerspruchs zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen.

Beim Reproduktionsprozeß des gesellschafdichen Gesamtkapitals geht es jedoch, wie bereits festgestellt wurde, nicht mehr nur um die Produktion und Realisierung des Wertes der produzierten Waren, sondern auch um den Gebrauchswert, um den Stoffersatz. Bei der Analyse der Produktion und Reproduktion des Kapitals allgemein blieb die Gebrauchswertseite, blieb die Naturalform des Warenprodukts unberücksichtigt. Der reibungslose Verkauf der produzierten Waren sowie der ungehinderte Kauf der Elemente des produktiven Kapitals wurden als gegeben vorausgesetzt. Die Fragen, wie und wo das Produkt verkauft wird, wie und wo die Arbeiter Konsumtionsmittel und die Kapitalisten Produktionsmittel kaufen, konnten außer Betracht bleiben. Bei der Analyse der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals dagegen geht es gerade um die Fragen: „Woher nehmen die Arbeiter und die Kapitalisten ihre Konsumtionsmittel? Woher nehmen die Kapitalisten ihre Produktionsmittel? Auf welche Weise deckt das erzeugte Produkt diesen ganzen Bedarf und ermöglicht es die Erweiterung der Produktion?“7 Der gesellschaftliche Reproduktionsprozeß ist „vom Standpunkt sowohl des Wert- wie des Stoffersatzes der einzelnen Bestandteile von W′ zu betrachten“8, stellt Marx fest. Deshalb ist nun auch die gebrauchswertmäßige Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, die Unterscheidung der Arbeitsprodukte, die im Reproduktionsprozeß eine ganz unterschiedliche Rolle spielen, unbedingt zu beachten.

Beim Gebrauchswert jeder Ware handelt es sich um einen Gebrauchswert für andere, um einen gesellschaftlichen Gebrauchswert, der jeweils ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen kann. Bei der gesamten Warenmasse hängt der Gebrauchswert auch damit zusammen, daß sie dem quantitativ bestimmten gesellschaftlichen Bedürfnis für jede besondere Art von Gebrauchswerten entspricht.9

Vom Standpunkt der ökonomischen Zweckbestimmung, der funktionellen Rolle der Waren im Reproduktionsprozeß gliedert Marx das gesellschaftliche Gesamtprodukt gebrauchswertmäßig in zwei große Gruppen: in die Gruppe der Produktionsmittel und in die der Konsumtionsmittel. Das gesellschaftliche Gesamtprodukt muß gebrauchswertmäßig, stofflich die Bedürfnisse der produktiven Konsumtion durch die Produktionsmittel und die Bedürfnisse der individuellen sowie der gesellschaftlichen Konsumtion durch die Konsumtionsmittel decken.

Maßgeblich für die Zuordnung der zahlreichen verschiedenartigen Gebrauchswerte ist also die ökonomische Rolle und Funktion im Reproduktionsprozeß, ist die Frage, ob das Arbeitsprodukt im Produktionsprozeß verbleibt und der Erneuerung oder Erweiterung der Produktionsbedingungen dient, ob es individuell oder gesellschaftlich konsumiert wird10. Je nachdem, welche ökonomische Funktion sie im Reproduktionsprozeß erfüllt, ist eine Ware entweder Produktionsmittel oder Konsumtionsmittel.

Kohle zum Beispiel fungiert als Produktionsmittel, wenn sie im Produktionsprozeß produktiv konsumiert wird. Sie ist Konsumtionsmittel, wenn sie in Haushalten oder Schulen als Brennstoff dient und individuell oder gesellschaftlich verbraucht wird.

Im Kapitalismus gilt als zusätzliches Kriterium für die Zuordnung zu den beiden Abteilungen, ob sich das Produkt gegen Kapital oder gegen Revenue austauscht: Produktionsmittel werden gegen konstantes Kapital, Konsumtionsmittel gegen Arbeitslöhne beziehungsweise gegen einen Mehrwertteil – Mehrwert/Revenue, der dem individuellen Verbrauch der Bourgeoisie dient – ausgetauscht.11

Die im Verlaufe eines Jahres produzierten Produktionsmittel verwenden die Kapitalisten für den Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel und für die Erweiterung der Produktion. Die Produktionsmittel können nur als Kapital dienen. Die produzierten Konsumtionsmittel müssen mit Hilfe der jeweiligen Einkommen durch die individuelle Konsumtion der Arbeiter und der Kapitalisten verzehrt werden. „Die ersteren fallen ausschließlich den Kapitalisten zu, die letzteren verteilen sich zwischen den Arbeitern und den Kapitalisten“12, hebt Lenin hervor.

Ausgehend von dieser gebrauchswertmäßigen Aufgliederung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts in Produktionsmittel und Konsumtionsmittel, unterteilt Marx die gesellschaftliche Produktion in zwei große Abteilungen. Er schreibt: „Das Gesamtprodukt, also auch die Gesamtproduktion, der Gesellschaft zerfällt in zwei große Abteilungen:

I. Produktionsmittel, Waren, welche eine Form besitzen, worin sie in die produktive Konsumtion eingehn müssen oder wenigstens eingehn können.

II. Konsumtionsmittel, Waren, welche eine Form besitzen, worin sie in die individuelle Konsumtion der Kapitalisten- und Arbeiterklasse eingehn.

In jeder dieser Abteilungen bilden sämtliche verschiedne ihr angehörige Produktionszweige einen einzigen großen Produktionszweig, die einen den der Produktionsmittel, die andern den der Konsumtionsmittel. Das in jedem der beiden Produktionszweige angewandte gesamte Kapital bildet eine besondre große Abteilung des gesellschaftlichen Kapitals.“13

Diese Unterscheidung der wertmäßigen Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts nach c + v + m sowie der gebrauchswertmäßigen Zusammensetzung nach Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln bildet den Ausgangspunkt für die Untersuchung der gesellschaftlichen Reproduktion. Da das produzierte gesellschaftliche Gesamtprodukt zugleich das gesamte Warenkapital (W′) bildet, gehen Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals vom Kreislauf dieses Warenkapitals aus14. Die stoffliche Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts auf die produktive und individuelle sowie gesellschaftliche Konsumtion ist daher zugleich der Prozeß der Realisierung des Warenkapitals sowie des stofflichen und wertmäßigen Ersatzes der verschiedenen Bestandteile des Kapitals und der Akkumulation von Mehrwert. Diese Verteilung auf die verschiedenen Verbraucher und die Realisierung erfolgt in der Zirkulation. Daher muß der Reproduktionsprozeß des Kapitals – das soll noch einmal betont werden – als Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozeß erfaßt werden.

Das Problem der gesellschaftlichen Gesamtproduktion wurde von den verschiedenen bürgerlichen Ökonomen vor Marx nur relativ wenig behandelt. Den ersten Versuch einer Darstellung der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion unternahm der französische Physiokrat Francois Quesnay (1694 - 1774) mit seinem Tableau économique15. Marx hebt die große Bedeutung dieses Versuches wiederholt hervor. Aber Quesnay konnte noch nicht zu einer Lösung des Problems kommen, da er nur die landwirtschaftliche Produktion als produktiv betrachtete im Gegensatz zur „sterilen“ Industrieproduktion. Dadurch, daß er die Quelle des Mehrprodukts und des Mehrwerts nur in der Landwirtschaft suchte, konnte er das Wesen des Wertes und der wertbildenden Arbeit nicht richtig erkennen. Auch Adam Smith (1723 - 1790) konnte die Lösung nicht finden, da er von einer falschen wertmäßigen Zusammensetzung des Warenprodukts ausging (Weglassung des konstanten Kapitals) sowie die individuelle und die produktive Konsumtion verwechselte. Erst Marx konnte auf der Basis seiner Arbeitswert- und Mehrwerttheorie sowie der richtigen Theorie von der produktiven Arbeit eine wissenschaftliche Darstellung des Prozesses der gesellschaftlichen Gesamtproduktion geben. „Die Richtigstellung der beiden erwähnten Smithschen Fehler …“, schreibt Lenin, „machte es Marx erst möglich, seine hervorragende Theorie der Realisation des gesellschaftlichen Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft zu schaffen.“16