RotFuchs 223 – August 2016

Aachener Friedenspreis 2016

RotFuchs-Redaktion

Der Aachener Friedenspreis geht in diesem Jahr an das „Komitee der Wissen­schaftler für den Frieden“ in der Türkei und an die sachsen-anhaltinische „Bürgerinitiative Offene Heide“. Wir dokumentieren hier auszugsweise die Begründungen für die jährlich vergebenen Auszeichnungen.

Aachener Friedenspreis 2016

Im Januar 2016 veröffentlichten 1128 Wissenschaftler verschiedener Universitäten einen gemeinsamen, an die Regierung gerichteten Friedensappell: Die Unterzeichner fordern ein Ende des Militäreinsatzes in den kurdisch geprägten Gebieten und rufen zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen für den Friedensprozeß auf.

Dieser Aufruf hat für die türkischen Hochschulen und die Unterzeichner erhebliche Folgen: Leib und Leben werden bedroht, berufliche Existenzen vernichtet, (regierungs-)kritisches Denken wird aus den Hochschulen verbannt. Aufrufe, Petitionen und Veröffentlichungen gehören schon lange seit den massiven Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der politischen Rechte zum Alltag kritischer Intellektueller und Wissenschaftler in der Türkei. Doch dieser Aufruf hatte aufgrund seiner Klarheit der Forderungen und der massiven Reaktion von Erdoğan selbst, Regierungsstellen und der Hochschulverwaltungen bereits einen Tag nach Veröffentlichung eine Sonderstellung.

Am 12. Januar hielt Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Rede aufgrund der Anschläge in Istanbul – doch Hauptthema war der Aufruf der „Wissenschaftler für den Frieden“: Erdoğan beschimpfte die Unterzeichnenden in seiner Rede als eine „Bande ignoranter, dunkler Gestalten“, bezeichnete sie als „Landesverräter“ und rief die Justiz dazu auf, das Nötige gegen diesen „Verrat“ von „Pseudo-Wissenschaftlern“ zu unternehmen.

Seit 2015 geht die türkische Armee mit einer massiven Offensive gegen die verbotene kurdische Organisation PKK vor und verhängte über 50 Ausgangssperren in Diyarbakır und benachbarten Städten, von denen manche ohne Unterbrechung wochenlang andauern. Durch die Kämpfe wurden Häuser, Infrastruktur wie Straßen, Strom- und Wasserleitungen zerstört, so daß sich in den eingekesselten Gebieten neben der akuten Lebensgefahr durch den Beschuß auch eine humanitäre Katastrophe abzeichnet.

Bisher kamen nach Angaben des türkischen Vereins für Menschenrechte mindestens 162 Menschen aus der Zivilbevölkerung ums Leben, darunter 32 Kinder und 24 Menschen im Alter von über 60 Jahren (Stand Februar 2016). Aufgrund der Ausgangssperre konnten und können viele Leichen nicht geborgen werden, Verletzte sterben, weil Krankenwagen und Notärzten kein Zugang gewährt wird.

Nach dem Aufruf der „Wissenschaftler für den Frieden“ kam es zu massiver Hetze in den Medien, persönlichen Angriffen mit Rufmord in Zeitungen, Verhaftungen, Disziplinarverfahren (109 bis 22. 1.) und Anklagen wegen „Beleidigung des Türkentums, der Republik Türkei und ihrer Institutionen“. Ihnen wird außerdem vorgeworfen, „Propaganda für terroristische Organisationen“ zu betreiben.

Erdoğan und seine AKP-Regierung haben mit diesem Krieg den Graben zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung enorm vertieft. Der vor drei Jahren noch mit Hoffnung begonnene Friedensprozeß ist vollständig zum Erliegen gekommen. Die kurdischen Forderungen nach kommunaler Selbstverwaltung und einer Autonomie für die kurdischen Gebiete innerhalb der Türkei werden von Erdoğan und seiner AKP als Vaterlandsverrat angesehen. Die türkische Regierung mobilisiert eine enorme nationalistisch-islamistische Hetze gegen „Separatismus und Terrorismus“. Inzwischen fordern Passanten von der Straße im türkischen Fernsehen „einen Genozid“, wenn die Armee den kurdischen Widerstand nicht „ausrotten“ könne. Der Krieg in den kurdischen Gebieten und die massive Hetze vertiefen die ethnische Spaltung des Landes enorm, auch indem sie massive kollektive Traumatisierungen schaffen, die in das kollektive Gedächtnis eingehen werden. Erdoğans Strategie der Gleichschaltung der Medien und der Beeinflussung des öffentlichen Bewußtseins scheint aufzugehen.

In dieser Situation hört man von seiten der EU und der deutschen Regierung keinerlei Kritik, da die Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung in der Flüchtlingsfrage nicht gefährdet werden soll. „Ein NATO-Land bekämpft seine eigene Bevölkerung mit NATO-Panzern und europäischen Waffen, und Europa schweigt“, so ein Unterzeichner.

Der Aufruf der Wissenschaftler für den Frieden hat eine Sonderstellung durch die Klarheit des Textes und der massiven Gegenreaktion des türkischen Staates, seiner Organe und der diffamierenden öffentlichen Reaktion.

Ausgezeichnet wird das „Komitee der Wissenschaftler für den Frieden“, um seine verfolgten Unterzeichner zu unterstützen und zu helfen, eine Stärkung der Öffentlichkeit gegen die Kriegspolitik und Politik der Spaltung der türkischen Gesellschaft zu erreichen.


Aachener Friedenspreis 2016

Der Krieg beginnt hier! Hier, das ist die Colbitz-Letzlinger Heide, nördlich von Magdeburg, mit dem 232 Quadratkilometer großen Truppenübungsplatz, dem Gefechtsübungszentrum (GÜZ) Altmark, den die Bundeswehr selbst als den modernsten Europas bezeichnet. Hier wird Krieg geübt, ausprobiert, vorbereitet – von der Bundeswehr und der NATO.

Zur Vorgeschichte: Nachdem das Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide ab 1935 zunächst von der Wehrmacht, dann ab 1945 von der Sowjetunion für militärische Zwecke genutzt wurde, bestand nach der Wende die Hoffnung, daß die Colbitz-Letzlinger Heide als Naturpark genutzt würde, nachdem der Landtag Sachsen-Anhalts 1991 dessen ausschließlich zivile Nutzung beschlossen hatte. 1993 entschied sich dann jedoch der Bundestag für die Weiterführung des Truppenübungsplatzes, und im August 1994 besetzte die Bundeswehr das 23 000 ha große Kerngebiet.

Als Reaktion darauf formierte sich 1993 die Bürgerinitiative Offene Heide, die seit dem 1. August 1993 jeden ersten Sonntag im Monat zum Friedensweg in die Colbitz-Letzlinger Heide aufruft, um für eine zivile Nutzung des Naturschutzgebietes, für Frieden und gegen Krieg zu protestieren und symbolisch ein Stück Heide in Besitz zu nehmen. „Frieden schaffen ohne Waffen“ ist ihre Losung.

Auf der Homepage der BI Offene Heide heißt es: „Die verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 und das neue Weißbuch der Bundeswehr rechtfertigen nahezu unbegrenzte militärische Einsätze, um den Zugang zu lebenswichtigen und knapp werdenden Ressourcen der Erde für die modernen Industrienationen zu rauben. Diese Neuorientierung der Bundeswehr dient der Vorbereitung von Angriffskriegen und stellt einen Straftatbestand nach dem Grundgesetz, dem Strafgesetzbuch und dem Völkerrecht dar.“

„Ziviler Ungehorsam wird zur Pflicht, wo der Staat den Boden des Rechts verläßt.“ (Gandhi)

 „Verantwortung für unser Land heißt: Nein zu Krieg und Konfrontation! Unsere Verantwortung heißt: Ja zu Frieden, Abrüstung, ziviler Konfliktlösung und humanitärer Hilfe.“

Die Colbitz-Letzlinger Heide mit GÜZ und Schnöggersburg ist der Inbegriff für den Wandel der Bundeswehr von einer Verteidigungs- hin zu einer Interventionsarmee. GÜZ und Schnöggersburg sollen auch von der Schnellen Eingreiftruppe bzw. der „Speerspitze“ der NATO genutzt werden.

Die Beharrlichkeit und der Mut der BI Offene Heide zu immer wiederkehrendem zivilem Ungehorsam in ihrem unermüdlichen langjährigen Protest gegen Krieg, Militarisierung und Rüstung verdienen Respekt und unsere Solidarität! Diese Kriegsvorbereitungen gehen uns alle an. Was die BI jedes Jahr, Monat für Monat, vor Ort – in unmittelbarer Nachbarschaft der Vorstufe zum nächsten Kriegseinsatz – an Protest leistet, leistet sie stellvertretend für uns alle! Die Verleihung des Aachener Friedenspreises ist in diesem Sinne ein wichtiges Signal. Und auch, um diese unmittelbaren Kriegsvorbereitungen einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis zu bringen.