RotFuchs 220 – Mai 2016

Adieu, Genossen!

Klaus Steiniger

Der französische Schriftsteller und Publizist André Wurmser, der für die damals kommunistische „Humanité“ viele Jahre eine stets mit Spannung erwartete tägliche Kolumne unter der Überschrift „Mais …“ („Aber …“) verfaßte, „überlebte“ seinen physischen Tod – zumindest journalistisch – um 24 Stunden. In jener Ausgabe der lieben alten „Huma“, die sein Ableben vermeldete, bat er noch einmal ums Wort. „Un dernier mais …“ („Ein letztes Aber …) stand über dem Text, der viele bewegte. Es war gewissermaßen ein Nachruf des Autors auf sich selbst.

Der überzeugte Materialist Wurmser, der natürlich um die Endlichkeit menschlichen Daseins wußte, verabschiedete sich auf beinahe surrealistische Weise von seinen Genossen. Er bat sie überdies, auf Sträuße und Kränze zu verzichten und das Geld statt dessen seiner in jenen Tagen tapfer kämpfenden Partei – der FKP – zu spenden.

Für Wurmser hatte sich der Kreis des Lebens, mit dessen Bilanz er durchaus zufrieden sein konnte, geschlossen. Sein literarisches Erbe ist beachtlich. Ein mit der Feder bewaffneter Klassenkämpfer, blieb er buchstäblich bis zum letzten Atemzug der revolutionären Sache des Proletariats verbunden.

Ohne mich mit dem bedeutenden Franzosen auf eine Stufe erheben zu wollen, habe auch ich das Verlangen, Euch Lebewohl zu sagen. Ich bin, wie man so sagt, mit mir im Reinen. Dazu gehört auch privates, persönliches Glück, das ich erfahren habe.

Seit 1948 stand ich in den Reihen der deutschen kommunistischen Bewegung. Ich bin der SED an meinem 16. Geburtstag – dem 28. Dezember jenes Jahres – als FDJler in Westberlin beigetreten.

Die andere entscheidende Koordinate meines Lebens will ich besonders hervorheben: Über 40 Jahre – von der ersten bis zur letzten Minute ihres Bestehens, wobei dieses für mich am 18. März 1990 sein Ende fand – war ich Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, des besten Staates in der Geschichte unseres Volkes. Diese beiden Klammern haben alles zusammengehalten.

Zu besonderem Dank fühle ich mich meinem Vater verpflichtet, der mir auch als mein Lehrer an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität in so mancher Hinsicht den Weg gewiesen hat. Er war ein treuer Kommunist. Als Mitglied des Deutschen Volksrates und Abgeordneter der Provisorischen Volkskammer zählte er 1948/49 zu den Bahnbrechern und Gründern der DDR. Er hat ihre erste Verfassung maßgeblich mit formuliert. Jahrzehntelang gehörte er dem Weltfriedensrat an. 1980 wurde er am Pergolenweg in der Gedenkstätte der Sozialisten beigesetzt.

Zu mir selbst nur soviel: An dem Tag, an dem die DDR entstand, war ich FDJ-Sekretär des traditionsreichen Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, das Schinkel und Bismarck besucht hatten. Es galt damals als die reaktionärste Schule im Osten der Stadt. Stadtschulrat Ernst Wildangel hatte mich dort hingeschickt. Auf dem Schulhof hielt ich vor einem verblüfften und überwiegend feindseligen Zuhörerkreis die Festansprache zur Staatsgründung.

Nach dem Studium war ich zunächst Staatsanwalt und Bürgermeister, dann Journalist beim Fernsehen der DDR, Mitarbeiter des Außenministeriums und schließlich fast 25 Jahre Redakteur und Auslandskorrespondent des ND, das damals in einer Millionenauflage erschien. In der Zeitung, die seit Walter Ulbrichts Ausscheiden zwar oft hölzern, sperrig und blutarm daherkam, aber bis 1989 immerhin auf Klassenpositionen stand, habe ich etwa zweieinhalbtausend Artikel veröffentlicht, von unzähligen Beiträgen in „horizont“, „Weltbühne“ und anderen Publikationen ganz abgesehen. Das damals kommunistische Blatt entsandte mich als Reporter an viele Brennpunkte des internationalen Geschehens. Monatelang verfolgte ich als Berichterstatter – zugleich auch als Vertreter einer weltweiten Solidaritätsbewegung – im kalifornischen Gerichtssaal den Prozeß gegen die auf Leben und Tod angeklagte marxistische Philosophiedozentin Angela Davis. Damals besuchte ich auch junge Indianer in ihren Wigwams und Rundhäusern am Pit River in der Sierra Nevada. Es gab gute Gründe, ihren Mut zu bewundern. Ich genoß die Gastfreundschaft japanischer Fischer, stand auf einem Friedhof bei Tokio am Grab des Kundschafters Richard Sorge. Schon 1964 hatte ich – unmittelbar nach dem durch USA-Kriegsschiffe provozierten „Zwischenfall im Golf von Tonking“ – die Helden Vietnams kennengelernt. Später begleitete ich fünf Jahre lang Portugals Kommunisten durch Revolution und Konterrevolution.

Vielen Großen der Volks- und Arbeiterbewegung bin ich persönlich begegnet: so Brasiliens legendärem Luis Carlos Prestes und Chiles begeisternder Gladys Marin; den Generalsekretären der meisten kommunistischen Parteien Lateinamerikas; dem in der Haft erblindeten Nationalen Vorsitzenden der KP der USA Henry Winston, einem besonders liebenswerten Menschen; Portugals genialem Álvaro Cunhal wie auch dem roten General und zeitweiligen Lissabonner Regierungschef, meinem Freund Vasco Goncalves. Unvergeßlich blieb mir ein Gespräch zwischen dem Generalsekretär der KP Griechenlands, Harilaos Florakis, und Volkskammerpräsident Horst Sindermann, dem ich in Athen beiwohnen durfte.

Besonderen Wert legte ich immer auf den Kontakt mit der Basis der eigenen Partei – den sogenannten einfachen Genossen – und vielen Menschen ohne SED-Parteibuch. Unzählige Male habe ich vom Fleck weg die Fragen interessierter Bürger zu außenpolitischen und internationalen Themen beantwortet, von denen ich etwas zu verstehen glaubte. Allein im vogtländischen Plauen war ich 20 Jahre hintereinander auf „Propagandistischen Großveranstaltungen“ mit jeweils bis zu 1 000 Zuhörern zu Gast, die angesichts des oft kargen Informationsflusses jener Jahre auf zusätzliche Auskünfte warteten. Im benachbarten Reichenbach brachte ich es „nur“ auf 15 zusammenhängende Jahre.

Nach der Niederlage des Sozialismus habe ich – die vielen Karrieristen, Umgefallenen, Weggelaufenen und beim Gegner „Angekommenen“ nüchtern ins Kalkül ziehend – das kostbarste Gut in der Stunde des konterrevolutionären Sieges kennengelernt: die Standhaftigkeit der zusammengeschmolzenen Schar Übriggebliebener, die nicht aufgegeben hatten. Und auch jenen bewahrte ich meine Verbundenheit, welche sich nach anfänglichem Umherirren, verständlicher Frustration oder dem Rückzug in die eigene „Burg“ wieder bei uns einfanden.

Ich bin so manchen begegnet, mit denen ich mich selbst zwar nicht messen, die ich aber als Maßstab betrachten konnte: An erster Stelle möchte ich unter unseren Freuden den herausragenden marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz mit seiner Kampf- und Lebensgefährtin Silvia erwähnen.

Andere Erfahrungen waren mehr peripherer Art. 1946 zählte ich als einer der Jüngsten zu jenen, deren Familien den Sarg des Dichters Gerhart Hauptmann im durch Marschall Shukow bereitgestellten Sonderzug von Schlesien in die Sowjetische Besatzungszone begleiten durften. Zwei Jahre später sandte mir der große expressionistische Maler Karl Hofer einen handschriftlichen Brief, mit dem er mich dazu ermunterte, dann leider rasch erloschene Ansätze zeichnerischer Begabung zur Reife gelangen zu lassen. 1950 befand ich mich im Treptower Reihenhaus von Ernst Busch – einem unserer damaligen Nachbarn –, als der unvergessene proletarische Künstler seinen gerade getexteten und vertonten Hit „Ami, Ami, go home!“ einem kleinen Freundeskreis erstmals zu Gehör brachte.

Und dann gab es da noch die mich aufwühlende Visite im Pariser Gartenhaus von Robert-Jean Longuet, zu dem wir gemeinsam mit dem UNESCO-Botschafter der ČSSR eingeladen worden waren. Der bereits über 80jährige Urenkel von Karl Marx – ein gestandener Kommunist – und seine deutsche Frau Christine boten uns ein vorzügliches Abendessen an. Vor allem aber: Longuet erzählte aus seinem bewegten Leben, so auch davon, daß bei seinem Vater Jean – dem außenpolitischen Redakteur der „Huma“ und Marxens Lieblingsenkel Jonny – Lenin als Freund des Hauses aus- und eingegangen sei.

Die Kette solcher Erinnerungen ließe sich wohl noch eine Weile fortsetzen. Doch ich will niemanden damit langweilen, sondern statt dessen selbst Bilanz ziehen. Meine Kinder, Enkel und Urenkel in Deutschland, Schweden und Brasilien müssen die Flamme des Lebens weitertragen.

Was ist die Quintessenz – außer Erfüllung im Privaten – für einen Menschen, der aus „unserem Holz geschnitzt“ wurde? Meine charakterlichen und politischen Prioritäten setze ich so: Prinzipienfestigkeit, die sich im Leben und Sterben bewährt; Unveräußerlichkeit einmal gewonnener Überzeugungen, Erkenntnisse, Einsichten und Haltungen; Berechenbarkeit für jedermann; unbedingte Verläßlichkeit; Fleiß; Mut im Umgang mit dem Klassenfeind, was nicht mehr heißt als Verdrängung der eigenen Angst; Kameradschaftlichkeit und Solidarität gegenüber Freunden; profunder Internationalismus; menschliche Wärme; Sinn für Humor. Ein Kommunist darf schwach werden, aber nicht umfallen, solange noch ein Funken Leben in ihm ist.

Mein persönliches Resümee lautet: Ich habe einiges erreicht und manches verfehlt. Von den Defiziten will ich hier nicht sprechen.

Auf die Habenseite meines politischen Eingreifens buche ich an erster Stelle den „RotFuchs“. Er ist das gemeinsame Werk vieler, entsprang allerdings einer Idee von mir und Bruni. Ich durfte ihn auch in all den Jahren redigieren. Mit dieser kleinen und – wie inzwischen manche meinen – großen Zeitschrift haben wir in den finstersten Jahrzehnten seit dem Sturz des Faschismus einen Lichtschimmer an den Horizont geworfen. Der RF hat den Treuesten unter den Treuen die politische Heimat bewahrt. Dieses Leuchtfeuer darf mit dem Verschwinden einzelner Personen nicht erlöschen. Sicher wird der „RotFuchs“ künftig anders sein als bisher, bringt doch jeder an ihm Arbeitende seine eigene Handschrift, seinen persönlichen Stil, seine Art des Herangehens und das Maß seiner Kenntnisse ein. Das galt für mich ebenso wie es für meine Nachfolger gilt. Ich habe versucht, das Beste zu geben, und sie werden von dem gleichen Gedanken beseelt sein. Fortan sind ihre Erfahrungen und Fähigkeiten allein bestimmend.

Zögert keinen Augenblick, auch in Zukunft Eure ganze Kraft dafür einzusetzen, Kommunisten, Sozialisten und andere Weggefährten mit oder ohne Parteibuch beharrlich, geduldig und zielklar im Sinne von Marx, Engels und Lenin zu sammeln!

Wie einst für André Wurmser hat sich nun auch für mich der Kreis geschlossen. Ein winziges Detail führte mir das schon früher vor Augen: Bis zu meinem 5. Lebensjahr blickte ich in Charlottenburgs Knesebeckstraße aus unserem Küchenfenster auf einen engen Posthof. Jeden Morgen wurden dort in langer Reihe die damals gerade eingeführten und alle Welt frappierenden gelben Seitenwagen-Maschinen der Eilzusteller betankt. Das war ein aufregendes Ereignis meiner frühen Kindheit. Im letzten Abschnitt meines Lebens stand mir Tag für Tag ein ähnliches Bild vor Augen: der Blick aus unserer Karlshorster Wohnung fiel abermals direkt auf den Hof der Post, wo sich gelbe Transporter in rascher Folge ablösten. Eine Allegorie? Während ich aus Euren Reihen ausgeschieden bin, setzt Ihr die Stafette der Generationen fort. Ich möchte Euch meinen Leitgedanken ans Herz legen. Peter Hacks hat in seiner jahrelangen Korrespondenz mit mir den herrlichen Satz gefunden, der mich bis zuletzt motivierte: „Wessen sollten wir uns rühmen, wenn nicht der DDR!“

Ganz am Schluß noch eine sehr persönliche Bitte: Steht meiner Bruni bei, die unseren „RotFuchs“ mit inspiriert und all die Jahre zusammen mit mir gestaltet hat. Ihr habe ich viel zu verdanken.

Mit Joe Hill, dem 1915 von den Kupferbossen Utahs erschossenen amerikanischen Streikführer, sage ich: Trauert nicht, organisiert Euch! Adieu, Genossen!

Euer Klaus Steiniger

In diesem Heft wollte Klaus Steiniger über „Anleihen bei Goethe“ schreiben. Diese Überlegungen, die wir als letzten Leitartikel des Autors in der Juni-Ausgabe veröffentlichen, schließen mit einem Zitat aus Goethes Westöstlichem Diwan: „Denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein.“

Unser am 9. April 2016 verstorbener Freund und Genosse war ein Kämpfer, bis der Tod ihn aus dem Leben sowie aus der Arbeit am und für den „RotFuchs“ riß. Er hat uns und allen, denen seine Gedanken, Berichte und Einschätzungen Orientierungshilfe, Inspiration und Ermutigung in schwierigen Zeiten waren, ein Geschenk und eine Verpflichtung hinterlassen – seinen bewegenden Abschiedsartikel „Adieu, Genossen!“