RotFuchs 230 – März 2017

Afghanistan braucht eine Perspektive

Dr. Matin Baraki

Landkarte von Afghanistan

Flucht ist in der afghanischen Geschichte ein neues Phänomen. Erst als 1973 die Monarchie gestürzt wurde, kam es zu Flüchtlingsströmen nach Pakistan. Nach der Machtübernahme der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) 1978 verließen auch viele Fachkräfte das Land. Mit der sowjetischen Intervention 1979 flohen etwa drei Millionen Menschen nach Pakistan, zwei Millionen nach Iran und weitere 100 000 nach Indien, nach Europa und nach Übersee. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 wurde der Bürgerkrieg fortgesetzt, und es kam zu neuen Flüchtlingswellen. Bis zur Kapitulation der DVPA-Regierung 1992 stellten die Afghanen mit 38 % der weltweiten Flüchtlinge die größte Gruppe. Als die Islamisten 1992 in Kabul ans Ruder kamen, setzten sie den Krieg gegeneinander fort. Dadurch vergrößerte sich die Zahl der Flüchtlinge weiter und setzte sich auch unter dem Taliban-Regime ab 1996 fort. Anfang der 80er Jahre gelangten meist Angehörige der Oberschicht nach Europa und in die USA. 1980 flohen 5500 Personen nach Deutschland. Mit der Einführung einer Visumspflicht für Deutschland 1987 wurde die Einreise zwar erschwert, dennoch zählte Afghanistan weiterhin zu den zehn Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen. Als 1989 die sowjetischen Truppen das Land verließen, stieg die Anzahl der nach Deutschland flüchtenden Afghanen wieder an, diesmal waren es Anhänger der DVPA-Regierung.

Seit den 80er Jahren erhielten in die Bundesrepublik eingereiste Flüchtlinge aus Afghanistan problemlos Asyl. So lag die Anerkennungsquote zwischen 1984 und 1986 zwischen 61 und 72 %. Die Einführung der Visumspflicht 1987 und der Verweis auf innerstaatliche Fluchtalternativen führten zu einem Rückgang der Antragstellungen. Die Anerkennungsquote sank infolgedessen 1987 auf 15 %. In den 90er Jahren war vor allem die Definition der „staatlichen Verfolgung“ und ihr Fehlen der Hauptgrund für die Ablehnung vieler von Afghanen gestellter Asylanträge. Auch die unter dem seit 1996 herrschenden Taliban-Regime einsetzende Verfolgung wurden bis 2001 von deutschen Behörden nicht als staatliche Verfolgung anerkannt. Eine Einschränkung des Rechts auf Asyl war 1993 vorgenommen worden. Seitdem gilt die „Drittstaatenregelung“, die besagt, daß Flüchtlinge ihren Asylantrag in dem Land stellen müssen, das sie als erstes erreichen. Ende der 90er Jahre gingen die Anerkennungsquoten immer weiter zurück, von 3,7 % (1998) über 2,6 % (1999) auf 0,9 % im Jahr 2000. Im Frühsommer 2001 erging ein Urteil des Bundesverfas­sungs­gerichts, das die Verfolgung durch die Taliban als quasi-staatliche Verfolgung definierte. Infolgedessen stieg die Anerkennungsquote 2001 wieder auf 60 % an. Diese Praxis kam durch den Zusammenbruch des Taliban-Regimes im Oktober 2001 und den NATO-Militäreinsatz in Afghanistan zum Erliegen. Allerdings erhielten 20 bis 30 % der ca. 90 000 in der Bundesrepublik lebenden Afghanen eine Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen.

Ab 2003 verstärkte sich die Rückführung afghanischer Flüchtlinge. Aus Iran und Pakistan kehrten 2005 freiwillig 750 800 Personen nach Afghanistan zurück. Auch einige Bundesländer hatten bereits mit Abschiebungen begonnen. Von der Innenministerkonferenz wurden 2004 Grundsätze zur Rückführung beschlossen, nach denen Personen zurückkehren sollten, die wegen Straftaten verurteilt wurden, gegen die Ausweisungsgründe vorliegen oder die eine Gefährdung für die innere Sicherheit Deutschlands darstellen. Die Notwendigkeit der Rückführungen wurde auch mit der allgemein sicheren Lage in Afghanistan durch die NATO-Präsenz und durch die neue Regierung begründet. Darüber hinaus wurde auf den Bedarf an gut ausgebildeten Afghanen für den Wiederaufbau des Landes hingewiesen. Mit Verweis auf die Rückkehrförderungsprogramme der International Organization for Migration (IOM) wurde die Rückkehr nach Afghanistan als erfolgsversprechend charakterisiert. Auch die afghanische Administration war an qualifizierten Bürgern aus der Diaspora interessiert.

Bis zur Änderung des Aufenthaltsrechts 2005 wurde als asylrelevante Verfolgung nur die staatliche Verfolgung anerkannt. Seit Anfang dieses Jahres konnte explizit auch Asyl erteilt werden, wenn eine Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausging.

Während 2012 insgesamt 26 250 Afghanen in Deutschland Asylanträge stellten, darunter 5675 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, schnellte die Gesamtzahl auf 154 000 im Jahr 2015. Im vergangenen Jahr machten die afghanischen Jugendlichen 47 % aller minderjährigen Asylbewerber aus.

Für die deutschen Besatzer haben bis zu 3000 Afghanen im Auftrage des Auswärtigen Amtes, der Bundeswehr und des Bundesinnenministeriums gearbeitet. „Wir waren Ohren und Augen der Deutschen“, sagte Abdul Sakhizada, der für die Bundeswehr tätig war. Darüber hinaus habe er auch bei Freunden und Nachbarn Informationen für die Bundeswehr gesammelt. Diese „Ohren und Augen“ der Deutschen werden von der afghanischen Bevölkerung als Spione, Kollaborateure und Vaterlandsverräter angesehen. Inzwischen sind sie fast alle in die BRD gebracht worden. Die Kabuler Administration war dagegen, weil sie als gutausgebildete Fachkräfte beim Wiederaufbau gebraucht würden.

Im Oktober 2016 hat die EU ein Abkommen mit Afghanistan geschlossen. Das Land wird stärker finanziell unterstützt, soll im Gegenzug aber Flüchtlinge zurücknehmen. Es ist geplant, 80 000 Afghanen abzuschieben. Auch die Bundesregierung hat ein Rücknahmeabkommen mit Kabul geschlossen. Zur Zeit sind 12 539 Afghanen ausreisepflichtig, davon verfügen 11 543 über eine Duldung. Aktuell haben von den 247 000 in Deutschland lebenden Afghanen 6,6 % ein unbefristetes, ca. 23 % ein befristetes Aufenthaltsrecht, und 22 % waren geduldet. Bis September 2016 wurden
27 und am 15. Dezember weitere 34 Afghanen in ihr Heimatland abgeschoben. Unter ihnen waren etwa ein Drittel Straftäter, verurteilt wegen Diebstahls, Raubes, Drogendelikten, Vergewaltigung oder Totschlags.

Man sollte das Problem realistisch und auch aus der Perspektive Afghanistans analysieren. Die Grenze für alle Afghanen zu öffnen, kann weder für das Gastland noch für Afghanistan eine Alternative sein. Wäre die allgemeine unsichere Lage am Hindukusch alleiniger Maßstab, müßten ca. 80 % der Afghanen hierher geholt werden. Darüber hinaus sind seit der Grenzöffnung im September 2015 jene Afghanen eingereist, die zwischen 6000 und 160 000 Dollar für ihre Einreise nach Deutschland bezahlen konnten. Hält dieser Prozeß an, verbleiben am Hindukusch die Armen, Alten, Kranken, Ungebildeten, Warlords, Kriegsverbrecher, Drogenhändler, die Islamisten und eine weitgehend korrupte Administration. So ein Land hat auf unabsehbare Zeit keine Zukunft.

Ein Schritt in die richtige Richtig wäre es, jungen von der Abschiebung bedrohten Afghanen im Rahmen der Entwicklungspolitik eine Facharbeiterausbildung zu ermöglichen. Danach könnten sie mit 20 000 Euro, die ihnen in Zusammenarbeit mit internationalen NGOs – nach NATO-Angaben sind etwa 6000 am Hindukusch tätig – projektgebunden gewährt werden, eine eigene Existenz für sich und ihre Familien begründen und so dazu beitragen, ihrem Heimatland eine Perspektive zu geben.