RotFuchs 187 – August 2013

Als Archie ein Licht aufging

Manfred Hocke

Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, heißt es in Brechts „Dreigroschenoper“. Volkstümlich oder mundartlich wird es kaum eine Redewendung geben, die Wohlstand und Bildung zusammenbringt, als nützlich und wünschenswert hinstellt. Hauptsache reich ist die Devise. Dabei kann das Oberstübchen der Besitzer getrost bescheiden möbliert sein. Ja, sicherlich gab es Kunstsammler und Wissenschaftsförderer, auch verkappte Schöngeister und Leute mit unterdrücktem Forscherdrang als Mäzene. Aber der zerstreute Professor ist immer noch eine weltfremde Lachnummer, klassische Musik gilt bei etlichen als verschroben, abstrakte Kunst als bloße Kleckserei. Intellektuelle sind in den Augen mancher wankelmütige Weicheier, die zwar über den genetischen Aufbau des Menschen Bescheid wissen, aber vom Aufbau einer sozial gerechteren Welt keine Ahnung haben. Hochgebildete Leute mit zwei linken Händen, die nicht wissen, wo der Hammer hängt. Da ist ja auch etwas dran und spielt sogar im Urteil oder Vorurteil mancher Linker bisweilen eine Rolle, wie Archie des öfteren vernahm.

Dabei kamen die wichtigsten Aussagen zur gesellschaftlichen Entwicklung von Intellektuellen, die keinesfalls die Bodenhaftung verloren hatten, nämlich von Marx, Engels und Lenin, aber auch von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, um nur einige zu nennen. In ihren Überlegungen spielt natürlich die Analyse der Klassengesellschaft stets die Hauptrolle.

Aber auch über Bildung und Erziehung haben sie sich Gedanken gemacht. Wem dienen deren Einrichtungen, wie funktionieren sie, und woher beziehen sie ihre Mittel? Schließlich werden die Kinder der herrschenden Klasse in den Familien der industriellen Großdynastien und auf Eliteschulen, speziellen Universitäten und sonstigen privaten Hochschulen auf die Übernahme der ökonomischen und politischen Macht vorbereitet. Kinder aus ärmeren Elternhäusern sollen vorwiegend den Kapitalisten als Arbeiter dienen und Mehrwert schaffen. So kommt ihre Ausbildung billiger. Die schöne Illusion der Aufstiegsmöglichkeit vom Geschirrspüler zum Schloßherrn oder Formel-I-Fahrer, Fußball- oder Tennisprofi muß dabei unbedingt gewahrt bleiben. Auch auf Sänger, Musiker und Schauspieler sollen „gewöhnliche Leute“, deren Verführbarkeit funktionieren muß, fixiert werden. Bei all dem befindet sich die Bildung im Sinkflug. Schnelles Geld ist gefragt und so viel wie möglich – ob als Banker, Brauerei-, Bar- oder Bordellbesitzer. Die Unterschiede sind nicht allzu groß: Prostitution für Penunse.

Gediegener Wissenserwerb kann da nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sagen wir es so: Mit Schule und Bildung verdient man noch nichts. Wissensquellen sind heutzutage notfalls auch durch einen Klick im Internet zu erschließen. Viel wichtiger ist in diesem System, Leute für sich arbeiten zu lassen oder PR-Kampagnen zu veranstalten, um zu sehen, wie die Marionetten in Politik und Medien darauf reagieren. Und zwar im direkten Kontext mit den Konsumenten, die den ganzen Laden letztendlich zusammenhalten, ist doch der Tod des Konsumenten zugleich auch der Tod des Kapitalisten. Nur wer deren „soziale Marktwirtschaft“ verteidigt, gilt als aufrechter Demokrat. Das ist oberstes Bildungsziel dieser Gesellschaft. Darauf ist alles ausgerichtet – von der Wiege bis zum Erbbegräbnis.

Vielleicht war das schon immer so, fragt sich Archie, der allerdings aus den Tagen der DDR völlig andere Erfahrungen besitzt, die indes leider langsam verblassen, und zwar nicht nur bei ihm. In Archies Kindheitstagen, die er im Wohnviertel von Unterschichten des Breslauer Proletariats erlebte, wucherte der Kitsch in allen Spielarten, also das, was man heute Pop-Kultur nennt. Kinobesuche fanden nur gelegentlich statt, Theatervorstellungen fielen grundsätzlich weg. Archie hatte allerdings eine Cousine, die einmal in „Gasparone“ von Millöcker war – jener Operette, welche im sizilianischen Räubermilieu spielt. In der Familie stieg sie deshalb zur Operettenexpertin auf, wobei sie immer wieder dazu gedrängt wurde, die Arie „Dunkelrote Rosen bring ich, schöne Frau …“ zu singen. Kolossal, Gasparone! Die ganze Sippe zehrte davon.

Nach solchen Erlebnissen lernte Archie ab Mitte 1945 besonders fleißig und stopfte Bildung geradezu in sich hinein, weil er davon nichts aus dem Arme-Leute-Viertel mitbrachte, von den dürftigen „Informationen“, die von Zeit zu Zeit zirkulierende Lesezirkel-Mappen der Nazizeit vermittelten, abgesehen. Hinzu kam, daß er sich vor schwerer körperlicher Arbeit fürchtete, die er als Halbwüchsiger im Lausitzer Steinbruch Demitz-Thumitz kurze Zeit hatte verrichten müssen. Auch zur Landwirtschaft besaß er als Stadtkind keine Beziehung. Daher mußte er in eine größere Stadt, um sich weiterzubilden.

Ab 1949 hatte Archie überdies auch den Auftrag seines Staates DDR und die Lenin-Formel „Lernen, lernen und nochmals lernen“ gewissermaßen als Rückenwind. Das nannte man damals „Klassenauftrag“. Damit befand er sich im Konsens mit vielen anderen. Als „Barfüßler“ und zusammen mit Hunderttausenden, denen es ähnlich ging, war er zur Kultur, zur sozialistischen Moral und zum Menschsein durch Bildung unterwegs. Nach dem faschistischen 3. Reich seiner Kindheitstage, das glücklicherweise durch die Sowjetsoldaten hinweggefegt worden war, besaß Archie noch zwei Staatsbürgerschaften: eine, in deren Genuß er die wichtigsten Jahre seines Lebens verbrachte – die deutsche demokratische – und dann noch eine andere – die deutsche bundesrepublikanische. Sein Herz gehört der ersten, der verlorengegangenen.