RotFuchs 187 – August 2013

Als „Prawda“-Reporter
Henry Ford interviewten

Bernd Gutte

Flüsterpropaganda hat mich zu einem Buch geführt, in das ich mich schon allein durch seine wunderschöne Gestaltung verliebt habe. Es ist keine Buchpremiere und doch etwas Neues, zieht man die Zeitspanne in Betracht, die vom ersten Erscheinen bis zur heutigen Verfügbarkeit auch in Deutschland vergangen ist.

Potentielle Leser mögen jetzt sagen: Wen interessiert denn heute die Beschreibung einer Reise durch die USA in den 30er Jahren? Noch dazu, wenn sie von zwei Sowjetbürgern stammt, die sich ohne jegliche Vorkenntnisse und kaum des Englischen mächtig damals auf die Reise begeben haben, um den Lesern der Moskauer der „Prawda“ ihre Eindrücke zu vermitteln. „Nichts als Propaganda“, wehren die einen ab, während andere den Einwand erheben, man müsse doch heute nicht mehr das „Amerika des Henry Ford“ in Augenschein nehmen.

Abwarten, denn vorerst ist ja völlig ungewiß, um was es geht, muß ich da mit Mr. Adams ausrufen, der Ilja Ilf und Jewgeni Petrow – die beiden Reporter – durch das „eingeschossige Amerika“ begleitet. Warum eingeschossig? Was soll diese seltsame Metapher?

Gemach: Sind die USA denn wirklich nur das Land der nahezu himmelragenden Wolkenkratzer? In den Städten und Ortschaften der Vereinigten Staaten sieht man ganz überwiegend ein- und zweigeschossige Gebäude. „Die Mehrheit der Menschen lebt in Kleinstädten mit drei- bis zehntausend Einwohnern“, klären uns Ilf und Petrow auf. Die beiden besuchten 25 Bundesstaaten und Hunderte Städte oder Orte, atmeten die heiß-trockene Luft von Wüsten und Prärien, überquerten die Rocky Mountains, erlebten indianische Ureinwohner, sprachen mit jungen Arbeitslosen, hartgesottenen Kapitalisten, radikalisierten Intellektuellen und revolutionären Arbeitern, mit Schriftstellern und Ingenieuren. Und je länger wir mit ihnen unterwegs sind, um so stärker nehmen wir wahr: Eingeschossig sind in den USA nicht nur die meisten Bauten, auch das Denken des überwiegenden Teils der Bewohner des Riesenlandes folgt sehr unkomplizierten Strukturen, was manchmal von Vorteil sein kann – für die Mächtigen, versteht sich. Ungeachtet seiner hektischen Betriebsamkeit sei der Durchschnittsamerikaner ziemlich passiv. „Sagen Sie ihm, welches Getränk besser ist, und er wird es trinken. Teilen Sie ihm mit, welche politische Partei für ihn am günstigsten ist, und er wird sie wählen. Erklären Sie ihm, welcher der wahre Gott ist, und er wird an ihn glauben“, lesen wir bei den reisenden Russen.

Menschen, die das Land gut kennen, sagen mir, allzu überholt sei das Urteil der beiden sowjetischen Autoren bis heute nicht. Und so wäre auch jene gelbe Reklametafel mit der Aufschrift: „Revolution ist eine Regierungsformel für das Ausland“ auch jetzt noch denkbar.

Aber da Ilf und Petrow als profilierte Literaten und im Metier der Satire erfahrene Leute (man denkt da unwillkürlich an die „Zwölf Stühle“ oder „Das goldene Kalb“) alles andere als „eingeschossige“ Denker sind, fesseln sie uns mit ihrem Bericht nicht weniger als George Bernard Shaw oder Mark Twain. Mir kommen bei der Lektüre dieses Buches unwillkürlich Heines Reisebilder in den Sinn. Vielleicht ist das wegen des scharfsichtigen Blickes so, mit dem die Autoren ihre Umwelt durchleuchten, aber auch deshalb, weil ihr Text locker daherkommt und nicht von der Galle des Vorurteils getrübt ist. Diese Sowjetbürger erleben die Hochburg des Kapitalismus zwar unvoreingenommen, doch keineswegs naiv. Und sie sind fesselnde Erzähler. Amerikanische Technik sei unvergleichlich höher entwickelt als das Gesellschaftssystem, urteilen sie. Während immer neue Erfindungen phantastische Dinge, die das Leben erleichtern, produzierbar machten, gebe der Kapitalismus den Amerikanern nicht die Möglichkeit, genügend Geld zu verdienen, um all das auch erwerben zu können. Raten und Kredite seien die Folge.

Die beiden „Prawda“-Journalisten begegnen übrigens auch Henry Ford und sind von dessen Organisationstalent wie der Technologie des Konzerns beeindruckt, ohne dabei zu übersehen, daß in den Ford-Werken eine eigene Geheimpolizei existiert, während Gewerkschaften nicht zugelassen sind.

Ilja Ilf und Jewgeni Petrow zeigen sich von der Hilfsbereitschaft der Amerikaner und dem erstklassigen Service, der ihnen überall begegnet, sehr beeindruckt, wobei sie ähnliche Empfindungen offensichtlich bei ihren Lesern auslösen. Einer von ihnen, J. N. Nikolajew aus Moskau, schrieb, das Buch der beiden Autoren sollte für alle Mitarbeiter sowjetischer Dienstleistungseinrichtungen zur Pflichtlektüre erklärt werden, damit sie lernten, „daß Service in der UdSSR nicht nur möglich ist, sondern auch besser und umfassender organisiert werden kann“.

Das hat man bedauerlicherweise nicht getan. Im Vorwort schlägt Ilfs Tochter Alexandra die Brücke zur Gegenwart: „Heute haben auch wir in Rußland Schutzgelderpresser, Killer, ein Weißes Haus, nackte Mädchen, die nach Liebe dürsten, Hamburger und andere Genüsse. Äußerlich gibt sich unser Land alle Mühe, so zu werden wie Amerika …“

Das Wichtigste steht allerdings noch aus, um Ilfs und Petrows Träume wahr werden zu lassen: „Wenn Amerika sowjetisch wäre, dann wäre es das Paradies.“

Ilja Ilf, Jewgeni Petrow:

Das eingeschossige Amerika

Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2011
2 Bände im Schuber (Die Andere Bibliothek), 700 Seiten

65,00 Euro