RotFuchs 229 – Februar 2017

Anmerkungen zum Lutherbild Joachim Gaucks

Also sprach der Bundespräsident

Prof. Dr. Horst Schneider

Martin Luther (Grafik: Lucas Cranach d. Ä.)

Obwohl der 500. Jahrestag des Thesen­anschlags Martin Luthers, der die Reformation einleitete, erst am 21. Oktober 2017 fällig wäre, begann die Kette der geplanten „events“ schon jetzt. Am 31. Oktober 2016 hielt der Bundespräsident die Festrede zur Eröffnung des Lutherjahres. In Gauck wird der frühere Pastor der Lutherkirche, woran er mit Freude erinnerte, eins mit dem Amt des Staats­oberhaupts. Wer erinnert sich daran, daß vor einhundert Jahren noch Wilhelm II., Kaiser von Gottes Gnaden, zugleich Oberhaupt der Lutherkirche war? Die Einheit von Thron und Altar war über Jahrhunderte perfekt. Gauck konstatierte: ,,1917, mitten im Krieg, war die preußisch-nationalistische Emphase geradezu übermächtig.“ Welchen Anteil hatte die Kirche daran? Ist heute die Trennung von Staat und Kirche, die das Grundgesetz gebietet, Norm für das Handeln von Politikern? Das Lutherjubiläum beweist das Gegenteil. Heute soll es um ein neues Lutherbild gehen, entrümpelt von den Mythen, die das Leben des Reformators und sein Wirken durchrankten und zum Teil von ihm selber stammen. Das geht schon bei der Frage los, ob der Thesenanschlag tatsächlich so stattgefunden hat, wie die Legende es erzählt. Margot Käßmann stellte als „EKD-Botschafterin“ für das Lutherjahr am Vorabend des Reformationstages in vier Punkten die Aktualität des Wirkens Luthers fest: die Bibel-Übersetzung, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, wie sie Luther definierte, sein Eintreten für Schulen und seinen Lebenssinn, der Humor einschließe.

Zweifellos hat die Bibelübersetzung die größte aktuelle Bedeutung. Luther schuf die deutsche Bibel als Instrument zur Durchsetzung der Reformation, zugleich wurde sie zur Triebkraft bei der Herausbildung der deutschen Nation.

„Der Spiegel“ (44/2016, S. 13 f.) hielt Martin Luther für den „ersten Rebellen der Neuzeit“, „moralischen Krieger“, „wütenden Weltenstürmer“, „widerständigen Rationalisten“, „Antisemiten“, „Gehorsamsprediger“, „Verräter in den Bauernkriegen“, „Taktiker im Umgang mit Fürsten“, „Wutbürger“. Neue Bücher preisen den „Rebellen und Mutmacher“ und „Kirchenrebellen“. Für alle Lobpreisungen gibt es Gründe. Hier soll die Reihe nicht fortgesetzt werden. Statt dessen richten wir den Blick auf Tatsachen, die häufig verschwiegen oder verfälscht dargestellt werden.

Da ist zunächst Luthers Haltung zu Gewalt, Haß, Krieg und Unterdrückung von höchst aktueller Bedeutung. In Gaucks Festrede gibt es dazu keine präzisen Aussagen. Dabei hat sich Gauck schon früher mit der Problematik beschäftigt.

Als er am 9. November 1999 im Bundestag George Bush sen. begrüßte, behauptete er, wir hier im Osten hätten 1989 vom Reformator gelernt, „ohne Gewalt mächtig zu werden“. „Unter dem Dach der Kirche“ fand 1989 eine „friedliche Revolution“ im Geiste Luthers statt? Der Pfarrer-Präsident erfand einen Luther, der Gewalt ablehnte und verurteilte. Dann sind also die Aufrufe des Reformators zum Mord an Juden und Bauern womöglich Fälschungen? Am 4. Mai 1525 veröffentlichte Martin Luther seine Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“. Darin heißt es: „Drum soll hier zuschmeißen, wurgen und stechen, heimlich oder offentlich, wer da kann, und gedenken, daß nichts Giftigers, Schädlichers, Teuflischers sein kann denn ein aufruhrischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlahen muß: Schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganz Land mit dir.“ Luthers Gebot: Ein „Aufruhrer“ ist totzuschlagen wie ein „toller Hund“. Das empfahl Luther den Fürsten auch im Falle seines Amtsbruders Thomas Müntzer, der die Bauern unterstützt hatte. Luthers Gebot, der Obrigkeit zu gehorchen, galt auch im ersten und zweiten Weltkrieg.

Im Sommer 2014 geschah etwas nicht nur für Gauck Bemerkenswertes, das nicht das Interesse der Medien fand. Am 30. Juni 2014 schrieben die Pfarrer Klaus Galley und Siegfried Menthal, denen sich weitere Amtsbrüder anschlossen, dem Bundespräsi­denten einen Brief. Darin erinnerten sie Gauck daran, daß die Kirchen 1989 der militärischen Gewalt abgeschworen hatten, und protestierten gegen dessen „Rechtfertigung“ deutscher Militäreinsätze heute. Der Bundespräsident überließ die Antwort David Grill, dem Chef des Bundespräsidialamtes, der am 18. Juli 2014 das Verhalten Gaucks zu erklären versuchte. Und wie tat er das? Gill berief sich darauf, daß Gauck in Luthers Spuren wandle, und verwies auf die „Barmer Erklärung“ der protestantischen Kirche von 1934, die Hitlers Politik als „Wohltat“ gewürdigt hatte. Die Linie wäre also: von Luthers Kriegsbejahung über den Segen für die Hitlerschen Kriege bis zu Gaucks Forderung, deutsches Militär weltweit einzusetzen. Als Motto könnte der Satz Luthers gelten: „Ein Mensch, sonderlich ein Christ, muß ein Kriegsmann sein und mit den Feinden in Haaren liegen.“

In diesem Geiste erklärte Ex-Bischof Huber bei der Vereidigung von Bundeswehr­rekruten am 20. Juli 2016 in Berlin wahrheitswidrig: „Ihr könnt euch darauf verlassen, dieser Staat wird euch nicht mißbrauchen. Ihr habt heute das große Glück, einer friedfertigen Nation und ihrem heute rechtlich geordneten Staat zu dienen.“ So sprach auch Dibelius 1933. Im Unterschied zu Huber scheint Luther Gewissensbisse gehabt zu haben: „Prediger sind die größten Totschläger … Ich, Martin Luther, hab im Aufruhr alle Bauern erschlagen, denn ich hab sie heißen totschlagen – all ihr Blut ist auf meinem Hals.“ Gaucks/Grills Brief vom Juli 2014 beweist, daß es in der aktuellen Situation von nicht geringer Bedeutung ist, wie Aussagen Martin Luthers zum Krieg und zum Aufruhr heute interpretiert werden. Damit sind wir bei einem denkwürdigen Zitat, das aus der etwa 20seitigen Schrift des Reformators „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können“ aus dem Jahre 1526 stammt. Anlaß für die Entstehung war die Sorge des Ritters Assa von Kram, daß sein Kriegshandwerk mit seinem christlichen Gewissen kollidiere. Als Martin Luther sich der Gewissensbisse des Ritters Assa von Kram annahm, lag der Bauernkrieg und der Mord an den aufständischen Bauern und Thomas Müntzer ein Jahr zurück. Luther hatte am 4. Mai 1525 sein Pamphlet „Wider die räuberischen Rotten der Bauern“ veröffentlicht. Luthers Zorn über die „Aufruhrer“, die „Gottes Ordnung“, den Feudalbesitz, in Frage stellten, ist auch in der Schrift über die „Kriegsleute“ der rote Faden.

Das Bemerkenswerte und Aktuelle könnte die Antwort auf die Frage sein: Wie und warum rechtfertigt der Reformator den Krieg gegen den Bauernaufstand, die „Kriegsleute und deren mörderisches Handwerk“? Luther schrieb: „In Todesnöten und Gefahr (ist) am meisten an Gott zu denken und für die Seele zu sorgen … Damit nun, soviel an uns liegt, den schwachen, einfältigen und zweifelnden Gewissen geraten werde und die Skrupellosen eine bessere Unterrichtung erfahren, habe ich Eure Bitte angenommen und dieses kleine Buch zugesagt. Denn wer mit einem guten, wohlunterrichteten Gewissen kämpft, kann gut kämpfen. Denn es kann nicht mißlingen: Wo ein gutes Gewissen ist, da ist auch großer Mut und ein tapferes Herz. Wo aber das Herz tapfer und der Mut getrost ist, da ist auch die Faust um so kräftiger und Mann und Roß frischer, alle Dinge geraten besser, und alle Ereignisse fügen sich auch besser zum Siege, den Gott dann auch gibt.“ Den „Kriegsleuten“ wollte der Reformer ein gutes Gewissen verschaffen, damit sie besser für (wessen?) Siege kämpfen, die Gott ihnen gibt. Wie verfuhr Luther bei seiner Argumentation? Zunächst trennte er zwischen Amt und Person, Tat und Täter. Wer im Amt handelt, z. B. ein Richter, handelt immer im Namen Gottes. Luther legte auch fest, daß es Gerechtigkeit nur vor Gott gäbe, wer als Soldat „Feinde“ nach Kriegsrecht tötet oder verletzt, müsse keine Gewissensbisse haben. Luther bejahte wie schon in der Schrift „Die weltliche Obrigkeit“, daß die weltliche Obrigkeit das Schwert führt, um die Bösen zu bestrafen. Luthers Rechtfertigung lautete: „Was ist Krieg anderes als Strafe für Unrecht und Böse? Warum führt man Krieg, außer daß man Frieden und Gehorsam haben will?“ „Man“ will Krieg. Töten und Rauben seien „in Wahrheit“ ein Werk der Liebe.

Ulrich Thein als Martin Luther (Fernsehen der DDR, 1983)

Das „Amt des Soldaten“ sei so nötig und nützlich „wie Essen oder Trinken oder sonst ein anderes Tun“. Daß Luther solche menschenfeindlichen Thesen durch den Mißbrauch mit Bibelzitaten zu stützen versuchte, soll hier aus Platzgründen nicht untersucht werden. Ausgesprochen demagogisch ist das Argument Luthers gegen diejenigen, die sich auf das Beispiel Christi beriefen: Christen seien mit Leib und Besitz der Obrigkeit unterworfen, der sie Gehorsam schuldig sind. „Wenn sie nun von der weltlichen Obrigkeit zum Kriege aufgerufen werden, sollen und müssen sie kämpfen, aus Gehorsam, nicht als Christen, sondern als Glieder und als untertänige, gehorsame Leute, dem Leibe und dem zeitlichen Besitze nach. Wenn sie kämpfen, tun sie es also nicht für sich noch um ihrer selbst willen, sondern im Dienst und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, der sie unterstehen.“ Diese Argumentation ermöglicht es jeder Obrigkeit, „Kriegsleuten“ ein „gutes Gewissen“ einzureden, selbst in den faschistischen Eroberungskriegen oder bei völkerrechtswidrigen NATO-Einsätzen. Unter dem Eindruck des Bauernkrieges im Vorjahr der lutherischen Schrift sah sich Luther noch veranlaßt, auf „Aufruhrer“ und die Rache des Adels einzugehen. Einige „Junkerlein“ mußten Luthers Mißbilligung über sich ergehen lassen: „Einige von unsren Junkerlein haben ja so gehandelt, besonders Reichen gegenüber, in der Hoffnung, etwas zu erpressen. Wenn sie nur zu ihnen sagen konnten: Du bist auch bei dem Haufen gewesen, du mußt hinweg. So haben viele Leute großes Unrecht getan, unschuldiges Blut vergossen, Witwen und Waisen gemacht und ihnen dazu auch noch den Besitz genommen. Und dennoch heißen sie vom Adel. Ja freilich, ,vom Adel‘. Aber auch der Dreck ist vom Adel und kann sich wohl rühmen, aus des Adligen Leib zu kommen, obwohl er stinkt und ohne Nutzen ist. So gut können wohl auch diese vom Adel sein. Wir Deutschen sind Deutsche und bleiben Deutsche, d. h. Säue und unvernünftige Bestien.“ Luther fügte erklärende Sätze an: „Aufruhr ist des Todes schuldig als Crimen laesae maiestatis, als eine Sünde gegen die Obrigkeit.“ Mit Bibelsätzen „bewies“ Luther, daß niemand gegen seinen Oberherrn kämpfen oder streiten darf. Daß Luther nur in der Situation 1526 für die damaligen „Oberherrn“ sprach, geht aus dem Text nicht hervor. Im Gegenteil: Sein Ausflug in die Geschichte der alten Griechen und Römer, Israels und anderer „heidnischer“ Reiche und deren Umgang mit Tyrannen sollen seine Auffassung bekräftigen, daß Menschen nichts gegen die Obrigkeit tun dürfen. „Unrecht muß es für jeden Untertan sein, etwas gegen seinen Tyrannen zu unternehmen.“ Ausflüge in die damalige Herrschaft Frankreichs und Dänemarks sollen diese Auffassung verstärken.

Luther kannte Leute, die „rechte Bösewichte“ als „Oberherrn“ nicht ertragen wollten. Er überzog sie mit Spott und Häme: „Den anderen, die sich gern ihr gutes Gewissen bewahren wollten, sagen wir folgendes: Gott hat uns in der Welt der Herrschaft des Teufels unterwerfen. Wir haben hier also kein Paradies, sondern müssen zu jeder Stunde auf alles Unglück gefaßt sein an Leib, Weib, Kind, Gut und Ehre.“

Bei Luther ist Gott kein gütiger und gerechter Vater. Luthers Ausflüge in die Geschichte und die Bibel können wir hier auch aus Platzgründen nicht wiedergeben. Die von Luther willkürlich ausgewählten Analogien haben alle nur einen Zweck: Gottes Zustimmung zu Kriegen und Tyrannei zu begründen. Schließlich kam der Reformator auch auf die „Kriegsleute“ zu sprechen, die als Söldner, für „Dienst- oder Manngeld“, als Lehns­herren oder auf andere Weise die Truppen für Kriege stellten. Er teilte das Volk in zwei große Gruppen ein, die Ackerbauern und die „Kriegsleute“: „Der Ackerbau soll ernähren, und der Kriegsdienst soll wehren.“ Die Kaiser und Fürsten sollten für die Balance sorgen, daß die Krieger ernährt, die Bauern geschützt werden. „Unnütze Leute sollte man aus dem Lande jagen.“

Luther quälte auch die Frage, wie ein Soldat bezahlt werden soll. Er fand: „Weil ein Soldat von Gott das Geschick zum Kämpfen bekommen hat, kann er damit wie mit seiner Kunst und seinem Handwerk jedem dienen, der ihn haben will, und dafür seinen Lohn wie für eine Arbeit annehmen. Denn das ist auch ein Beruf, der aus dem Gesetz der Liebe quillt.“ Söldner, die in den Ländern umherirren und Krieg in einem wilden Leben suchen, können allerdings vor Gott nicht gut bestehen, es sei denn ihr Landesherr „erlaubt oder wünscht, daß sie für einen anderen in den Krieg ziehen“.

Am Ende riet Martin Luther dem „ehrenfesten“ Ritter Assa von Kram, wie er sich bei einer Schlacht verhalten sollte. Nach einem speziellen Kriegsgebot sollte der Ritter das Glaubensbekenntnis und Vaterunser sprechen: „Und dann ziehe vom Leder und schlage dazwischen in Gottes Namen.“ Zweifellos ist der Brief Luthers an den Ritter Assa von Kram ein Zeitdokument, und der Leser könnte ihn mit einiger Verwunderung ablegen. Aber die Grundstruktur der Argumentation des Reformators ist nicht mit seinem Tode verschwunden. Wer wie ich in der Nazizeit Religion und Konfirmations­unterricht erhielt, erfuhr die „modernisierte“, antibolschewistisch ausgerichtete Neuauflage seiner Ratschläge.

Wer die Entstehung der Bundeswehr mit ihren Militärbischöfen, die ideologische Orientierung der NATO-Politik und ihre Begründung bei Bundeswehreinsätzen kennt, kann kein ruhiges Gewissen haben, solange Christentum, Bibel und Reformation im Dienste imperialistischer Kriege mißbraucht werden. Vielleicht könnte ein Satz Luthers Gauck zu denken geben: „Ein Prediger darf sich nicht in staatliche Dinge einmischen.“ Luther hielt sich nicht an seinen eigenen Rat, und die Tiraden des Reformators über die Juden halfen Hitler, den Holocaust mit Lutherzitaten zu rechtfertigen. Der Reformator hatte die Zeitgenossen aufgefordert, die Synagogen mit Pech und Schwefel zu verbrennen und die Juden zu töten, weil sie des Teufels seien. Warum hat sich Gauck gescheut, wenigstens diese Seite Luthers zu verurteilen? Bemerkenswert ist, daß Gauck in einem längeren Abschnitt seiner Festrede die Gnadenlehre des Reformators erwähnte: Allein durch den Glauben gelange der Mensch zum Seelenheil. Bei der Aussicht auf Himmelsfreuden oder Höllenqualen war (und ist?) das ein wirksames Druckmittel, um den Untertan bei der Stange zu halten. Joachim Gauck meinte, gerade heute hätten wir nichts so nötig wie Gnade. Er tadelte den „Ungeist der Gnadenlosigkeit, des Niedermachens, der Selbstgerechtigkeit, der Verachtung, der für uns brandgefährlich ist“. War es nicht derselbe Gauck, der als Leiter der Inquisitionsbehörde, die nach ihm benannt war, das Wort Gnade aus seinem Wortschatz gestrichen hatte? Und der sächsische Innenminister im Kabinett Biedenkopf, Heinz Eggert, ließ sich „Pfarrer Gnadenlos“ nennen.