RotFuchs 201 – Oktober 2014

Warum Thatcher und Mitterrand
die „Wiedervereinigung“ ablehnten

Angst vor Großdeutschland

Michael Binyon

Im September 2009 veröffentlichte „The Times“ – das seriöse Blatt der britischen Bourgeoisie – einen bemerkenswerten Beitrag aus der Feder ihres Mitarbeiters Michael Binyon. Wir haben ihn für die RF-Leser übersetzt. Die Schlagzeilen lauteten:

Enthüllt: Die Eiserne Lady drängte Gorbatschow, die deutsche Einheit zu stoppen
Thatcher wünschte, daß die Mauer bleiben sollte

Hier der Wortlaut:

Zwei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer sagte Margaret Thatcher zu Michail Gorbatschow, weder Großbritannien noch Westeuropa wünschten die Wiedervereinigung Deutschlands. Sie verlangte vom sowjetischen Präsidenten, daß er tue, was er könne, um diese aufzuhalten.

In einer außerordentlich freimütigen Unterredung mit Mr. Gorbatschow 1989 in Moskau, über die nie zuvor umfassend berichtet wurde, sagte die britische Premierministerin, auch Osteuropas Destabilisierung und ein Zusammenbrechen des Warschauer Paktes lägen nicht im Interesse des Westens.

Sie zog die gewaltigen Veränderungen, die sich quer durch Osteuropa ereigneten, in Betracht, bestand aber darauf, daß der Westen nicht auf dessen Auseinanderbrechen dränge.

Sogar 20 Jahre später dürften ihre Bemerkungen einen Aufschrei verursachen. Sie sind weitaus explosiver, als sie zugab, denn was sie sagte, kontrastierte aufs äußerste mit den öffentlichen Verkündungen des Westens und offiziellen NATO-Kommuniqués. Sie meinte zu Mr. Gorbatschow, er solle denen keine Aufmerksamkeit schenken.

„Wir wünschen kein vereinigtes Deutschland“, sagte sie. „Dieses würde zu einer Veränderung der Nachkriegsgrenzen führen, und wir können das nicht gestatten, weil eine solche Entwicklung die Stabilität der gesamten internationalen Lage untergraben und unsere Sicherheit gefährden würde.“

Ihre Ansichten, die eine harte Linie markierten, gehen aus einer bemerkenswerten Sammlung offizieller Kreml-Aufzeichnungen hervor, die aus Moskau herausgeschmuggelt wurde. Nachdem Mr. Gorbatschow 1991 aus dem Amt geschieden war, wanderten Kopien des Staatsarchivs in seine persönliche Moskauer Stiftung. Vor wenigen Jahren begriff Pawel Stroilow, ein junger Schriftsteller, der bei Gorbatschows Stiftung Forschungen betrieb, die enorme historische Bedeutung dessen, was da aufgezeichnet worden war. Er kopierte über 1000 Protokolle, darunter die sämtlicher Politbüro-Debatten, und nahm sie mit, als er nach London umzog, um seine Forschungen fortzusetzen.

Seine Kopien waren gerade noch rechtzeitig angefertigt worden, da sich sämtliche Niederschriften der Politbüro-Sitzungen und der Gespräche mit ausländischen Führern inzwischen unter Verschluß befinden. Aus den Unterlagen geht detailliert hervor, wie die Russen auf die tumultartigen Ereignisse des Jahres 1989 reagierten. Sie enthüllen auch die entschiedenen Anstrengungen Großbritanniens und Frankreichs, Schritte in Richtung auf die deutsche Vereinigung dadurch aufzuhalten, daß sie die Sowjetunion in Opposition dazu manövrierten. Sie zeigen überdies die totale Verblüffung im Kreml angesichts der Unruhen quer durch Osteuropa und der Flucht Tausender Ostdeutscher nach Ungarn und in die Tschechoslowakei. Und sie machen Mr. Gorbatschows Haß auf die alten osteuropäischen kommunistischen Führer in lebhafter Weise klar. So bezog er sich einmal auf Ostdeutschlands Erich Honecker als auf ein „Arschloch“.

Mrs. Thatcher wußte, daß ihre Bemerkungen im Falle des Bekanntwerdens einen Krawall auslösen würden. Sie stellte dabei besonders Solidarność-Anhänger in Polen und im Westen in Rechnung, wobei sie Mr. Gorbatschow erzählte, sie sei „tief beeindruckt“ vom Mut und Patriotismus des polnischen kommunistischen Führers Wojciech Jaruzelski. Sie merkte zustimmend an, daß Mr. Gorbatschow „gelassen“ auf die Ergebnisse der polnischen Wahlen reagiert habe, in denen die Kommunisten erstmals bei einem offenen Votum in Osteuropa besiegt worden waren, sowie in bezug auf andere Änderungen in der Region.

„Mein Verständnis Ihrer Position ist das Folgende: Sie begrüßen es, daß sich jedes Land auf eigene Weise entwickelt – unter der Bedingung, daß der Warschauer Pakt erhalten bleibt. Ich verstehe diese Position perfekt“, sagte sie.

Dann feuerte sie ihre Granate ab. Sie bat darum, daß ihre folgenden Bemerkungen nicht aufgezeichnet werden sollten. Mr. Gorbatschow stimmte zu, aber das „Protokoll des Kremls“ enthielt sie irgendwie doch, und zwar mit der lakonischen Bemerkung: „Der folgende Teil des Gesprächs ist nach dem Gedächtnis wiedergegeben.“

Mrs. Thatcher sprach von ihrer „tiefen Besorgnis“ darüber, was in Ostdeutschland vor sich gehe. Sie sagte, „große Veränderungen“ dürften auf dem Weg sein. Und das  führte sie zu der Befürchtung, all das könne möglicherweise zur deutschen Wiedervereinigung führen – dem offiziellen Ziel der westlichen Politik seit mehr als einer Generation. Sie versicherte Mr. Gorbatschow, US-Präsident George W. Bush wünsche ebenfalls nichts zu unternehmen, was von Rußland als Bedrohung seiner Sicherheit betrachtet werde. Dieselbe Zusicherung wurde später beim Gipfeltreffen USA-Sowjetunion in Malta gegenüber Mr. Gorbatschow persönlich ausgesprochen.

Die Kremlaufzeichnungen sind ein außergewöhnlicher Schnappschuß der Verwirrung, die den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa begleitete. Die Russen wußten, daß Ostdeutschland für ihre Interessen lebenswichtig war, aber sie konnten es sich nicht länger leisten, es zu stützen. Und Mr. Gorbatschow war entschlossen, keine Truppen für eine blutige Niederschlagung zu entsenden.

Erstaunlich, aber die Russen diskutierten sogar darüber, die Berliner Mauer selbst abzureißen, wie aus den Aufzeichnungen einer Politbürodebatte am 3. November 1989 hervorgeht – sechs Tage vor dem Fall der Mauer.

Wladimir Krjutschkow, Chef des KGB: „Morgen werden 500 000 Menschen auf die Straßen von Berlin und anderer Städte strömen.“

Gorbatschow: „Hoffen Sie, daß Krenz (Honeckers Ersatzmann als Parteiführer) auf seinem Posten bleibt? Wir werden es unserem Volk nicht erklären können, wenn wir die DDR verlieren. Wie auch immer, wir würden außerstande sein, sie ohne die Bundesrepublik Deutschland über Wasser zu halten.“

Eduard Schewardnadse, Außenminister: „Wir täten besser daran, die Mauer selbst abzureißen.“

Krjutschkow: „Es wird schwierig für sie, wenn wir sie entfernen.“

Gorbatschow: „Sie (die Ostdeutschen) werden als Ganzes aufgekauft …, und wenn sie die Weltmarktpreise erreichen, dann wird ihr Lebensstandard unverzüglich sinken. Der Westen wünscht die deutsche Vereinigung nicht, aber er möchte uns dazu benutzen, sie zu verhindern, um durch einen Zusammenprall zwischen uns und der BRD die Möglichkeit einer künftigen ‚Verschwörung‘ zwischen der UdSSR und Deutschland auszuschließen.“

Mrs. Thatcher war nicht die einzige, die von den Ereignissen in Deutschland beunruhigt wurde. Einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer traf Jacques Attali, der persönliche Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand, mit Wadim Sagladin, einem führenden Mitarbeiter Gorbatschows, in Kiew zusammen. Mr. Attali sagte, Moskaus Weigerung, in Ostdeutschland zu intervenieren, habe „die französische Führung verwirrt“. Er fragte, „ob die UdSSR ihren Frieden mit der Aussicht auf ein vereinigtes Deutschland gemacht“ habe und „keinerlei Schritte zu dessen Verhinderung mehr zu unternehmen“ gedenke. „Dies hat eine Furcht ausgelöst, die an Panik grenzt.“ Dann stellte er knallhart fest, wobei er zum Echo von Mrs. Thatcher wurde: „Frankreich wünscht in keiner Weise eine deutsche Wiedervereinigung, obwohl es in Rechnung stellt, daß sie am Ende unvermeidlich sein dürfte.“ Im April 1990 – fünf Monate, nachdem die Mauer ihre Funktion verloren hatte – sagte Mr. Attali, die Aussicht auf eine Wiedervereinigung verursache unter französischen Politikern Alpträume. Die Dokumente zitieren ihn dahin gehend, daß er gegenüber Mr. Mitterrand erklärte, er selbst würde „zum Mars fliegen“, wenn das einträte.

Anatoli Tschernjajew, Kreml-Mitarbeiter für Verbindungen zu den kommunistischen Bruderparteien, notierte in seinem Tagebuch, daß „ganz Europa“ über Mr. Gorbatschow in Berlin hergefallen sei. „Und jeder flüstert in unser Ohr: Es ist gut, daß die UdSSR delikaterweise ihre Haltung gegen die deutsche Wiedervereinigung zum Ausdruck gebracht hat. Politiker, die Mr. Gorbatschows Berater überall in Europa trafen, sagen übereinstimmend, daß niemand ein vereinigtes Deutschland wünscht.“

In Frankreich, notierte er, habe Mitterrand sogar über eine militärische Allianz mit Rußland nachgedacht, um es aufzuhalten, – „getarnt als gemeinsamen Einsatz der Streitkräfte zur Bekämpfung von Naturkatastrophen“.

Sogar noch 1990 versuchte Mrs. Thatcher den Lauf der Dinge zu verlangsamen. Zu Mr. Gorbatschow sagte sie: „Ganz Europa beobachtet das nicht ohne einen Grad von Furcht, wobei es sich daran erinnert, wer die beiden Weltkriege begonnen hat.“

Es beanspruchte ein weiteres Jahr zäher Verhandlungen, die beide Deutschlands und die vier siegreichen Alliierten aus Kriegszeiten einbezogen, bis eine Übereinkunft in Sachen Vereinigung zustande kam.