Bei DDR-Schülern galt „Das siebte Kreuz“ als
ein ethisch-moralischer Maßstab
Aus der Entstehungsgeschichte
eines großen Seghers-Romans
Mit ihrem Roman „Das siebte Kreuz“, der zuerst 1942 in einem mexikanischen Exilverlag erschien, erlangte Anna Seghers Weltruhm. Das Buch gehört zum unverlierbaren Erbe humanistischer Weltliteratur und hat den Widerstandskämpfern gegen faschistischen Terror ein bleibendes Denkmal gesetzt. Millionenfach wirkte die Geschichte von der Flucht des Kommunisten Georg Heisler aus dem Konzentrationslager Westhofen aufklärerisch und ermutigend auf junge und ältere Leser. Die Schüler in der DDR haben „Das siebte Kreuz“ im Deutschunterricht behandelt. Über das Werk wurde dort lebhaft diskutiert, in einigen Fällen bearbeitete man es dramaturgisch und führte es auf. Doch in der alten BRD blieb der Roman bis Anfang der 70er Jahre nahezu unbeachtet – und dies, obwohl er bereits 1944 in den USA verfilmt und der Autorin 1947 dafür in Darmstadt der begehrte Georg-Büchner-Preis zuerkannt worden war. Es lohnt sich, „Das siebte Kreuz“ noch einmal oder auch zum ersten Mal zu lesen, seiner Entstehungsgeschichte nachzugehen, denkwürdige Orte und Schauplätze aufzusuchen. Sie finden sich in der Region zwischen Frankfurt am Main, Mainz und Worms, aber auch in Berlin.
„Jedes Jahr geschah etwas Neues in diesem Land und jedes Jahr dasselbe: daß die Äpfel reiften und der Wein bei einer vernebelten Sonne und Mühen und Sorgen der Menschen“, besingt die Dichterin im ersten Kapitel ihre Heimatregion. Doch als Netty Radvanyi geborene Reiling, die unter dem Künstlerpseudonym Anna Seghers veröffentlichte, diese Zeilen um 1938 aufschrieb, befand sie sich in Paris und unerreichbar fern von rheinischen Obst- und Weingärten. Schon 1933 hatte sie – als Jüdin, Kommunistin und unabhängige Intellektuelle gleich mehrfach stigmatisiert – Nazideutschland verlassen müssen. Da war sie bereits seit 1928 im deutschsprachigen Raum als Kleist-Preisträgerin mit ihrer Erzählung „Aufstand der Fischer von St. Barbara“ bekannt.
Geboren und aufgewachsen war Netty Reiling in einem jüdisch-orthodox geprägten, wohlhabenden und als liberal einzuordnenden Mainzer Elternhaus. Sie hatte sich jedoch schon als Studierende in Köln und Heidelberg nach geistig intensiven, auch schmerzhaften Auseinandersetzungen aus dem Herkunftsmilieu gelöst und marxistischem Ideengut zugewandt.
Die Gegend um Worms ist einer der Schauplätze im „siebten Kreuz“. Hier, in Osthofen, hatten die Faschisten schon bald nach ihrem Machtantritt im Mai 1933 ein frühes Konzentrationslager errichtet, in dem Hunderte Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch Christen und Juden gequält und gedemütigt wurden. Ein Jahr lang bestand dieses KZ, dann bauten die Faschisten nach dem „Pilotprojekt“ noch tödlichere Lager. Weithin bekannt und gefürchtet war Osthofen, so wissen es noch immer alteingesessene Bewohner der Region. Seit sich ab 1978 überlebende ehemalige Häftlinge, später auch engagierte Gewerkschafter und christliche Friedensfreunde für den Erhalt des Gebäudes als Gedenkstätte einsetzten, nimmt sich auch das SPD-regierte Rheinland-Pfalz des Erinnerungsortes an. Besucher können sich dort in einer 2002 eröffneten Dauerausstellung über das einstige KZ informieren.
Wer sich der fachkundigen Führung durch das Gelände anschließt, erfährt: Nur einem Gefangenen ist die Flucht aus der Hölle Osthofen gelungen. Der damals 30jährige Max Tschornicki aus Rüsselsheim, seit Jugendtagen in der sozialistischen Arbeiterbewegung aktiv, war 1933 mit der ersten Verhaftungswelle dorthin gekommen. Über abenteuerliche Fluchtwege schaffte er es ins Pariser Exil. Dort traf er Anna Seghers und berichtete ihr. Buchenau, Oppenheim, Mainz, Flöchst, Frankfurt-Niederrad – Georg Heislers Fluchtweg ist nicht mit dem des Rüsselsheimer Genossen identisch, und aus Osthofen wird im Roman Westhofen. Doch aus Tschornickis Erlebnisberichten gewinnt die Dichterin ihren Stoff. In Paris – während einer ihrer intensivsten, fruchtbarsten Schaffensperioden – formt sie frei Fabel und Handlung. Die genaue Kenntnis der Orte und ihrer Bewohner, dazu das Flair der Landschaft und die Erinnerung an das einstige Zuhause beflügeln die Schreibende.
Wohl auch wegen der das Werk durchströmenden wahrhaftigen Liebe zur rheinischen Heimat ist dem Buch „Das siebte Kreuz“ und seiner Autorin in der Osthofener Gedenkstätte ein eigener Raum gewidmet.
Für die Familie Radvanyi – Netty, genannt Anna Seghers, und Ehemann Laszlo mit den Kindern Peter und Ruth – begann nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Frankreich ein Überlebenskampf, der sie über Marseille, Mexico City und New York nach Schweden führte.
Als Anna Seghers 1947 wieder nach Deutschland kam, lagen 14 Jahre Emigration hinter ihr. Trotz oftmals widriger Schaffensbedingungen hatte sie mehrere ihrer wichtigen Arbeiten meisterhaft bewältigt. Kaum jemand unter den Literaten vermochte das Thema Verfolgung, Flucht und Exil – brandaktuell wie ehedem – so packend, realistisch und engagiert zu bearbeiten wie sie.
1950 fand Anna Seghers in der erst kurz zuvor gegründeten DDR eine neue Heimat, für die sie fortan ihre Kraft als künstlerisch Schaffende, als Friedenskämpferin und als langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes einsetzte.
1981 – zwei Jahre vor ihrem Tod – wurde der bedeutenden Literatin die Ehrenbürgerschaft ihrer Geburtsstadt Mainz verliehen, nachdem ihr künstlerisches Werk zuvor von den in der BRD maßgeblichen Verlagsleitungen und Kulturpolitikern jahrzehntelang ignoriert worden war.
In der ihr während des Zeitraums von fast 30 Jahren als Berliner Heim- und Arbeitsstätte dienenden Wohnung in der Adlershofer Volkswohlstraße 81, jetzt Anna-Seghers-Straße, befindet sich heute eine öffentlich zugängliche Sammlung wichtiger Materialien über Leben und Schaffen der Schriftstellerin. Die Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V. hat hier ihren Sitz. Sie organisiert Vorträge, Gesprächsforen oder Lesungen, so von Trägern des Anna-Seghers-Literaturpreises. Er wird – dem Testament der Dichterin entsprechend – alljährlich an junge fortschrittliche Autoren aus Entwicklungsländern verliehen.
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