RotFuchs 234 – Juli 2017

Gespräch mit dem Filmregisseur Wladimir W. Menschow

„Bei uns herrscht die Zensur des Rubels“

RotFuchs-Redaktion

Olga Schablinskaja: Wladimir Walentinowitsch, wenn man den Blick nicht nur auf den „Feind vor den Toren“ richtet, sondern die Situation von innen heraus betrach­tet: Was oder wer hindert uns Ihrer Meinung nach, uns zu entwickeln?“

Wladimir Menschow: Alles hat mit der Perestroika begonnen, als wir uns vom Sozia­lismus losgesagt haben. Und es endete damit, daß viele bei uns den Kapitalismus wollten und losstürzten, um ihn aufzubauen. Mag sein, daß sie sich von den besten Absichten haben leiten lassen – obgleich ich den starken Verdacht habe, eher nicht. Das Wichtigste war doch, das „totalitäre Monster“ mit der Bezeichnung Sowjetunion zu vernichten, den KGB, die Miliz, die Armee zu vernichten … und danach auch die Industrie – auch sie war „nicht richtig organisiert“!

Es wurden nicht einfach nur irgendwelche einzelne Fabriken zerstört, nein! Ganze Industriezweige sind unters Messer gekommen. Die Statistik zeigt, daß wir dabei fast mehr verloren haben als im Großen Vaterländischen Krieg! Erst jetzt beginnen sich die Verteidigungsindustrie, der Schiffsbau und der Flugzeugbau wieder aufzurappeln. Und die Leute, die diese schrecklichen Verbrechen begangen haben, bestimmen nach wie vor unsere Wirtschaftspolitik. Sie müßten sich dafür verantworten.

Vor Gericht?

Mir geht es gar nicht um Gerichtsverfahren, aber sie sollten wenigstens keine verantwortlichen Posten mehr einnehmen. Doch wir sehen sie fortlaufend auf den Regierungssitzungen und den Fernsehschirmen. Wobei ich persönlich bis heute die Vorteile von Privateigentum gegenüber dem staatlichen nicht sehen kann. Sie werden mich nie davon überzeugen, daß das verglichen mit dem Sozialismus eine gerechtere Gesellschaftsordnung und das wirtschaftlich richtigere System ist. Ich verstehe nicht, weshalb wir reiche Bonzen brauchen, die von ihrer herrschaftlichen Tafel mal dem Sport, mal der Kunst ein paar Brosamen zuwerfen.

Die Volkskommissare der Stalinzeit sind vor Überarbeitung an ihren Schreibtischen zusammengebrochen. Doch gerade sie waren es, die das geschaffen haben, was sich diese verfluchten Oligarchen heute zunutze machen! Das sibirische Öl und das Gas haben wir dank der Menschen, die normale Löhne, im besten Falle eine Dreizimmer­wohnung und eine Datsche auf einem 600-qm-Grundstück hatten. Ohne irgendwelche Oligarchen vollbrachten sie unter schwersten Bedingungen die phantastische Erschließung Sibiriens. Und das Gas von der Jamal-Halbinsel? Alles wurde in der Tundra von null aus errichtet!

Als die Aufregungen um Glasnost und Perestroika, die um die Ereignisse des Jahres 1917 eine hysterische Welle geschlagen hatten, vorbei waren, trat die Wahrheit unver­hüllt zutage. Im Jahr des 100. Jahrestags der Revolution wird für mich immer klarer, daß die Revolution unsere nationale Errungenschaft ist, auf die wir stolz sein sollten. Im Oktober 1917 war das eine große Option für das Land und meiner Meinung nach die schöpferischste Periode in der Geschichte Rußlands. Man sollte nicht die heuti­gen Geschichtslehrbücher lesen, sondern die Zeitschriften der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zur Hand nehmen. Was für ein überbordender Optimismus! Die gesamte Gesellschaft befand sich in Aufruhr. In die entferntesten Dörfer drangen die Appelle der Sowjetmacht an die Menschen: „Werdet besser, wachst! Lernt unentwegt! Legt an Bildung zu, an handwerklicher Meisterschaft!“

Sie wiederholen die Worte meines Vaters: „Nur in der Sowjetunion konnte der Sohn einer armen Melkerin Militärjournalist werden und an den besten Hoch­schulen studieren.“

Natürlich! Irgendwoher mußten doch unsere großen Schriftsteller, Mathematiker oder Physiker kommen. Wenn man für irgend etwas eine Begabung hatte, konnte man nicht mehr verlorengehen – man wurde mit Sicherheit entdeckt. Das da ist ein guter Kerl – der versteht was von Chemie, fördern wir ihn! Man wählte die Besten der Besten. Und heutzutage … Was soll ein talentierter junger Mann tun, wenn seine Eltern kein Geld für die Ausbildung haben?

Mich begeistert in der Tat das System, das in der Sowjetunion in kürzester Zeit geschaffen wurde. Lesen Sie die Belletristik: „Zwei Kapitäne“ (von Weniamin Kawerin) oder „Die Republik der Strolche“ (von Leonid Pantelejew und Grigori Bjelych) – wie interessant das Leben eingerichtet war, wie man die Menschen auf ein höheres Niveau gezogen hat! Du kannst besser sein, als du jetzt bist!

20 Jahre nach dem Bürgerkrieg kam dann der „zivilisierte“ Westen mit einem weiteren Kreuzzug zu uns, bis an die Zähne bewaffnet.

Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert Rußlands. 70 Jahre lang waren wir die Fackel und der Leuchtturm für drei Viertel der Menschheit. Man ahmte uns nach. Die Welle der Befreiung vom Kolonialismus ist zweifelsohne unserem Einfluß geschuldet. Um so trauriger ist es zu sehen, daß wir diesem großartigen Erbe abschwören …

Mich würde Ihre Ansicht über eine andere aktuelle Frage interessieren – die Meinungsfreiheit.

Für viele erwies sich diese Freiheit als Freifahrtschein: He, ich laß alles raus. Man hat zwar nichts zu sagen, hat wenig Kultur, aber der Wunsch, über jeden und alles Dreck zu verbreiten, ist unendlich. Die ältere Generation hat von sich aus gelernt, sich zu beschränken.

Ist das denn etwa gut für einen Künstler?

Freiheit – das ist Beschränkung. Deine Freiheit endet dort, wo die Freiheit eines anderen Menschen beginnt. Du sollst einen anderen nicht beleidigen oder provo­zieren.

Heute gibt es keinerlei Freiheit, heute herrscht die Institution der Producer und Manager, die sich rücksichtsloser benehmen als die Kulturabteilung des ZK der KPdSU. Die Manager mischen sich in alle Vorhaben ein. Ich arbeite viel als Schau­spieler und sehe, wie die Regisseure bei der Arbeit skrupellos kaltgestellt werden … Strenggenommen ist die Zensur zurückgekehrt, nur trägt sie jetzt einen unanfecht­baren Charakter. Wenn man uns damals unter Druck gesetzt hatte, beschwerte ich mich beim Direktor von Mosfilm und bei Goskino oder ging bis zum Zentralkomitee der KPdSU. Und mitunter kam von dort das Signal: Was schikaniert ihr den Künstler? Gebt ihm die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern … Jetzt gibt es solche Möglich­keiten nicht mehr. Es ist niemand da, bei dem man sich beschweren könnte! Der Manager hat gesprochen – entweder man erfüllt seine Anweisungen, oder man kann gehen. Mit einem Wort: Wir haben heute keine staatliche Zensur, sondern die Zensur des Rubels …“

Aus „Argumenty i fakty“ 8/2017
Übersetzung: Tatjana Mahlow, redaktionell bearbeitet

Wladimir Walentinowitsch Menschow (geboren am 17. September 1939 in Baku) ist ein russischer Schauspieler und Regisseur, bekannt u. a. für „Ein Schabernack“ (1977), „Moskau glaubt den Tränen nicht“ (1979) und „Liebe und Tauben“ (1984). Auszeichnungen u. a.: Oscar für „Moskau glaubt den Tränen nicht“ (1981), Verdienter Künstler der RSFSR (1984), Orden „Für Verdienste für das Vaterland – 2. Klasse“ (2017)