RotFuchs 187 – August 2013

Bernsteins Rezept: Taktik ohne Strategie

Jobst-Heinrich Müller

Natürlich kann aus dem Zusammenfluß zweier unterschiedlicher Erfahrungsströme von Marxisten oder auch Marxisten-Leninisten eine sehr wertvolle neue Legierung entstehen. Gregor Gysi hat das allerdings etwas anders formuliert, als er erklärte, die Bündelung „unserer Erfahrungen“ aus der DDR und der BRD bilde „eine solide Grundlage zur Schaffung der neuen Linken in Deutschland“. Handelt es sich hier tatsächlich um die Ballung von linker Energie oder eher um die Vermischung zweier miteinander unvereinbarer Größen?

Mir scheint, daß der PDL ihr gesellschaftliches Gegenmodell abhanden gekommen ist. Ohne ein klares Ziel – den Sozialismus – gibt es aber keine Strategie, und ohne Strategie wird Taktik sehr leicht zu opportunistischer Anpassung. Diese führt bei einseitiger Fixierung auf parlamentarische Arbeit unweigerlich in Bernsteinsche Gefilde und in den Schoß offizieller Staatsräson. Das Motto des Übervaters revisionistischen Denkens – „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“ – gibt den Sozialismus als Orientierung auf.

Der Staat, der sich die DDR einverleibte, ist die alte Bonner BRD mit ihrer perfektionierten Erfahrung eines faktischen Zwei-Parteien-Pendelsystems, der Botmäßigkeit gegenüber der NATO und der Preisgabe nationaler Souveränität durch deren Ablieferung an Brüssel, wo Berlin zugleich die erste Geige spielen will. Richtschnur staatlichen Handelns ist das durch etliche Veränderungen und Ausführungsbestimmungen stark deformierte Grundgesetz, dessen Ablösung durch eine im Wege der Volksabstimmung zustande kommende Verfassung nicht – wie proklamiert – erfolgt ist.

Marxistische Linke aus dem Westen kennen dieses System aus leidvoller Erfahrung und der Praxis des außerparlamentarischen Kampfes. Solche Nagelproben blieben den mehrheitlich in der DDR aufgewachsenen PDL-Genossen erspart. Daher scheint es einigen unter ihnen nicht schwerzufallen, in der vorgegaukelten „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ der neuen alten BRD die derzeit einzige Fortschrittsoption zu verorten. Illusorisch bis lächerlich erscheinen da Koalitionsofferten mit der Empfehlung, der SPD und den Grünen das Alleinregieren „nicht zu gestatten“.

Diese politische Prostitution ist nicht nur unwürdig, sondern entbehrt auch jeder Bodenhaftung. SPD-kompatible „Einstiegsprojekte“ mit der Lockspeise ursprünglich selbst erhobener Teilforderungen, die von den Konkurrenten aus taktischen Erwägungen in entschärfter und modifizierter Form längst aufgegriffen wurden, interessieren weder die Wähler noch die erträumten rosa-grünen Wunschpartner. Was diese beiden Parteien wollen, haben sie klipp und klar gesagt. Für sie ist allein „Regierungsfähigkeit“ die Vorbedingung für jegliches Zusammengehen. Gemeint ist damit die Akzeptanz der bereits erwähnten BRD-Staatsräson mit NATO-Imperialismus, EU-Liberalismus, Antikommunismus und kapitalistischer „freier Marktwirtschaft“ als einziger Geschäftsgrundlage jeglicher Verständigung. Wer da nicht mitspielt, steht ganz automatisch auf dem politischen Index. Einladungen zum Übertritt von Personen, die das bereits gelernt haben, sind seit Sylvia-Ivonne Kaufmanns aufstiegsbewußtem Pferdewechsel längst im Angebot.

Der Schock der von Schröder auf den Weg gebrachten Agenda 2010 ist überwunden: Der Abbau fast aller sozialen Errungenschaften, die sich westdeutsche Arbeiter und Angestellte außerparlamentarisch zu erkämpfen vermochten, hat zu einer offenen Demaskierung der schon von Marx und Engels definierten Rolle des bürgerlichen Staates als Instrument zur Durchsetzung von Kapitalinteressen geführt. In diesem Umfeld werden Werte wie Solidarität und Gemeinsinn demontiert. Wer aber solche Positionen nicht freiwillig räumt, gilt nach USA-Muster als Kommunist.

Junge Menschen in Ost und West wachsen heute gleichermaßen mit ultrakapitalistischen „Wertvorstellungen“ auf. Seit dem KPD-Verbot gibt es in der BRD auf Bundesebene keine marxistische Parlamentspräsenz mehr. Dabei ist diese Arbeit, die manche verabsolutieren, eine wichtige Zusatzoption zur ausschlaggebenden außerparlamentarischen Aktion.

Die westdeutschen Marxisten haben seit Adenauers Zeiten jahrzehntelange lehrreiche Erfahrungen mit Lug und Trug, Massenmanipulation, Heuchelei, Korruption und folgenlosen offenen Verfassungsbrüchen gesammelt. Was für Empfindungen müssen sie haben, wenn einige Politiker der PDL eine „Rückkehr zu Willy Brandt“ – dem Vater der Berufsverbote – empfehlen! Andere wiederum wollen sogar Ludwig Erhards Strategie „Wohlstand für alle“ ihres eigentlichen Inhalts entkleiden.

Dabei hatten seine Konzepte zur Wiederherstellung des Imperialismus im Westen vor allem auch die Funktion, die Sozialkompetenz im Osten durch das aus Marshallplanmitteln zustande gekommene „Wirtschaftswunder“ ihrer Anziehungskraft zu berauben. Doch selbst unter Erhard waren die Lohnsteigerungsraten deutlich geringer als der Produktivitätszuwachs und das allgemeine ökonomische Wachstum. Vor allem aber wurden die 1945 von den Alliierten vorgenommenen Entflechtungen der Nazikonzerne – nicht zuletzt mit Hilfe des „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ – de facto aufgehoben. Massive Steuersubventionen forcierten die abermalige Monopolbildung.

Wem soll es da Nutzen bringen, wenn gewisse Vertreter der Linken phantasievoll in Memoiren und anderen Publikationen reaktionärer Westpolitiker nach Bausteinen für ihre angeblich innovativen Zukunftsspinnereien suchen? Auch Bestrebungen, Rosa Luxemburg zu einer Ikone des Parlamentarismus zu degradieren oder mit der „Bundesarbeitsgemeinschaft Shalom-Israel“ den Kampf der Palästinenser und anderer gepeinigter Völker zu untergraben, dienen der Sache wohl kaum.

Auf dem Boden des Grundgesetzes stehen heißt dafür zu kämpfen, daß dessen reaktionäre Änderungen wieder rückgängig gemacht werden. Auch das Stabilitätsgesetz, das staatliche Eingriffe „nur im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung“ gestattet, ist grundgesetzwidrig. Obwohl Volksabstimmungen als gleichrangige Mittel der Willensbekundung im GG neben Wahlen ausdrücklich vorgesehen sind, werden sie durch Gesetze in der Praxis verhindert.

Die PDL kann sich unter solchen Bedingungen nur durch eindeutige Aussagen bei ihrer Stammwählerschaft behaupten und neue Anhänger hinzugewinnen. Es gilt, durch klare Signale verlorenen Boden zurückzugewinnen und bestehende Positionen zu behaupten. Nur so vermag sich die Partei Die Linke als einzig wählbare Alternative zum schwarz-gelb-rosa-grünen Einheitsbrei zu präsentieren.