RotFuchs 190 – November 2013

Das Flaggschiff der „Schwarzbauten“-Armada

Wolfgang Giensch

Der RF 186 brachte einen Artikel aus meiner Feder über „Schwarzbauten im Sozialismus“. Mittlerweile habe ich mich etwas umgehört und bin auf etliche amüsante Geschichten zum Thema gestoßen. Eine davon möchte ich erzählen.

Zu den schönsten „Schwarzbauten“ der DDR zählt die detailgetreue Rekonstruktion der „SAXONIA“ – jener legendären Lokomotive, mit der 1839 die erste deutsche Fernbahnstrecke zwischen Leipzig und Dresden eingeweiht wurde.

Die Idee zu einem Nachbau entstand im Vorfeld des 150. Jahrestages der Eröffnung dieser Städteverbindung. Dazu plante die DDR eine Festveranstaltung in Regie der Deutschen Reichsbahn. Sie sollte 1989 in Riesa stattfinden. Die Vorführung einer originalgetreuen „SAXONIA“ war als Höhepunkt ins Auge gefaßt worden. Erwogen wurde eine Lok-Parade von etwa 150 Schienenfahrzeugen, die von ihr angeführt werden sollte.

Das Vorhaben, sie nachzubauen, fand zunächst großen Anklang und allgemei-ne Zustimmung. 1985 wurde eine damit befaßte Arbeitsgruppe ins Leben gerufen. Ihr gehörten Vertreter des Verkehrsministeriums, der Deutschen Reichsbahn, der Dresdner Hochschule für Verkehr sowie Leiter von Ausbesserungswerken und Lehrwerkstätten an. Mit dem Vorsitz wurde der Abteilungsleiter Triebfahrzeuge in der Reichsbahn-Hauptverwaltung für Maschinenwirtschaft Heinz Schnabel betraut.

Das Gremium formulierte Richtlinien für den Bau und vergab entsprechende Aufträge. Was ihm „lediglich“ fehlte, waren Geld und Material. Das vermochte die Arbeitsgruppe auch nicht aufzutreiben, weil das Vorhaben ja kein Bestandteil des laufenden Volkswirtschaftsplanes war. Das illustre Projekt konnte also – wenn überhaupt – nur außerhalb dieses Rahmens verwirklicht werden. Das aber war nach offizieller Auffassung unmöglich. Da einige Mitglieder der erwähnten Arbeitsgruppe diese Meinung teilten, zogen sie sich rasch wieder aus dem Kreis der „Lokomotivbauer“ zurück.

So wurde die Rekonstruktion der „SAXONIA“ ein klassischer „Schwarzbau“.

Zu dem heiklen Unterfangen gehörte zunächst einmal die Beschaffung technischer Unterlagen. Da es sich um das Baujahr 1838 handelte, gab es weder Konstruktionspläne noch Fotos. Nach intensiven Recherchen wurde schließlich eine Blaupause mit der Seitenansicht der Maschine ausfindig gemacht. Das Problem bestand „nur“ darin, daß sich die Zeichnung im Nürnberger Eisenbahnmuseum, also bei den „Kapitalisten“, befand. Wie sie in die DDR gelangte, ist eine Geschichte für sich. Dem Vernehmen nach sollen kollegiale Beziehungen zwischen Eisenbahnern aus Ost und West dabei eine Rolle gespielt haben.

In einem Interview, das Heinz Schnabel vor vier Jahren dem MDR-Fernsehen gab, deutete er nur an, wie es ihm mit viel Geschick, „Vitamin B“ – dem DDR-Codewort für Beziehungen der besonderen Art – und einer „persönlichen Geldprämie“, vor allem aber mit dem Enthusiasmus etlicher Eisenbahner, Werkstattmeister, Lehrwerkstätten und Studenten gelang, die „SAXONIA“ pünktlich zur 150-Jahr-Feier fertigzustellen. Die Kopie der Jubilarin führte man der staunenden Öffentlichkeit aus Ost und West an jenem Tage vor.

Drei Monate nach deren Präsentation wurde die Summe von 2,4 Millionen DDR-Mark auf das Konto des Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW) Halle „zur Begleichung der Kosten für den Bau der Lokomotive“ überwiesen. Das Problem bestand nur darin, daß es weder Rechnungen noch ausgewiesene Kosten gab. Sämtliche Teile der „SAXONIA“ waren in „Eigenleistung“ und aus „eigener Kasse“ – mit anderen Worten „schwarz“ – entstanden. So rührte Heinz Schnabel den stattlichen Betrag nicht an.

Nach der Annexion der DDR wurde das RAW Halle wie die meisten anderen Industriebetriebe im Osten plattgemacht. Von den 2,4 Millionen für die „SAXONIA“ fehlt jede Spur.