RotFuchs 192 – Januar 2014

Als der ranghöchste Bundeswehr-Deserteur die DDR um Asyl bat

Das Protokoll des Majors Bruno Winzer

Ulrich Guhl

Manchmal kann uns ein altes Buch viel über Gegenwärtiges erzählen. Es kann uns zeigen, wie eine Gesellschaft oder deren Einrichtungen von Beginn an beschaffen waren. Das betrifft auch die Bundeswehr. Viele Menschen fragen sich, ob sie erst nach 1990 zu einer imperialistischen Interventionsarmee wurde oder ob sie das schon immer gewesen ist. Zu den zahllosen Mythen und Lebenslügen der alten BRD gehört die Mär vom „Bürger in Uniform“, von einer demokratischen Armee, die einzig und allein dem Schutz der Bundesdeutschen vor feindlichen Angriffen dient.

Im Antiquariat stieß ich auf ein Buch, das mir auf Fragen zur Natur dieser Armee, die heute völkerrechtswidrige Interventionsfeldzüge unternimmt und offensichtlich auch in Kriegsverbrechen verstrickt ist, Auskunft gab. Sein Autor ist der ehemalige Bundeswehrmajor Bruno Winzer. Der Titel: „Soldat in drei Armeen“.

Bruno Winzer wurde 1912 in Berlin geboren. Seine Eltern waren kaisertreue Konservative. 1931 trat er in die Reichswehr – seine „erste Armee“ – ein. Schon zuvor sang er im Deutschnationalen Jugendbund Soldatenlieder und verfluchte die „Schande von Versailles“. In der Reichswehr herrschte noch der alte schwarz-weiß-rote Geist. Es folgten Drill und Schikane, aber Winzers Begeisterung ließ sich nicht erschüttern. Seine Jugendliebe Ruth teilte diesen Enthusiasmus nicht. Beinahe wäre Winzer zur SA gegangen. Er lehnte deren Angebot nur ab, weil ihm der militärische Habitus dieser NS-Sturmtruppe zu „unprofessionell“ erschien. 1935 wurde aus der Reichswehr die Nazi-Wehrmacht – Winzers „zweite Armee“. Er leistete seinen Eid nun auf Hitler, wie er es zuvor auf die Weimarer Republik getan hatte.

Als die deutschen Faschisten am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg entfesselten, glaubte Winzer an die Goeb-belsschen Propagandalügen. Da hatte Ruth, die Hitler verachtete, Deutschland bereits verlassen. Bruno aber zog die schwarze Uniform der Panzertruppen an, erlebte zuerst den Überfall auf Polen, dann auf Frankreich. Am 22. Juni 1941 begann das „Unternehmen Barbarossa“ – der Angriff auf die Sowjetunion. „Unser Mann“ war beim Vormarsch dabei. In seinem Buch beschreibt er das Niederbrennen der Dörfer, das Leid der Zivilbevölkerung, aber auch seinen damaligen Willen, den „Bolschewisten“ deutsche Überlegenheit zu beweisen. Diese scheint sich bis vor Leningrad und dem Dnjepr-Bogen zu bestätigen. Dann aber erlebt Bruno Winzer die ersten Niederlagen der Faschisten, ihren Rückzug und die Sinnlosigkeit des Krieges. Die Soldatenromantik ist längst in Schlamm, Leid und Blut untergegangen. Jetzt wollte er nur noch durchkommen. Der Überlebenskampf trieb ihn in kopfloser Flucht zurück in das, was vom „Großdeutschen Reich“ noch übriggeblieben war.

Das Ende des Hitlerfaschismus erlebte Winzer in Dänemark, wo er sich kurze Zeit in britischer Gefangenschaft befand. Er war ernüchtert. Die Verbrechen ließen sich nicht mehr leugnen. Doch wie viele seiner Generation glaubte er an die Alleinschuld derer, die Selbstmord begangen hatten oder in Nürnberg vor dem Tribunal standen. Er fühlte sich von ihnen mißbraucht. Eigene Schuld kam ihm nicht in den Sinn.

Nach einem kurzen Zwischenspiel als Geschäftsmann traf Bruno Winzer alte Kameraden wieder, die ihn zu Veranstaltungen der CDU einluden. Hier wurde er auf das Amt Blank – den Vorläufer des späteren BRD-Verteidigungsministeriums – aufmerksam gemacht. Doch es dauerte noch bis 1957, daß er wieder eine Uniform anzog. Seine dritte Armee war die Bundeswehr. Er hielt sie für demokratisch und sah in ihr ein notwendiges Instrument zum Schutz vor östlichen Eroberungsgelüsten. Er glaubte an etwas „Neues“, obwohl das alte Offizierskorps diese Armee führte. Bruno Winzer wurde mit seinem früheren Hauptmanns-Dienstgrad bei der Luftwaffe eingestellt. Dort war er als Presseoffizier für die wöchentlichen Auskünfte an Journalisten zuständig. Er tat das keineswegs unkritisch. Der Schock des Krieges saß noch tief. Die Wiederbewaffnung war umstritten, und damals vernahm man in den Medien noch manche ihr widersprechende Stimmen.

Für den Bundeswehroffizier Bruno Winzer wurde es immer schwieriger, Dinge zu rechtfertigen, die aus seiner Sicht nicht gutzuheißen waren. Er nahm an Tagungen der Luftwaffengruppe Süd in Karlsruhe teil, auf denen NATO-Pläne zur Sprache kamen, ABC-Waffen gegen Staaten des Warschauer Vertrages einzusetzen. Auf einer dieser Beratungen wurde der atomare Erstschlag erörtert. In den Diensträumen der Bundeswehr war immer öfter die Rede davon, es das nächste Mal besser machen zu wollen. Dort hingen Deutschlandkarten aus, in denen die Grenzen von 1937 gezeigt wurden, Bilder von Panzergrenadieren der Wehrmacht beim Sturmangriff. Die Sprache war kalt und menschenverachtend. Sie unterschied sich immer weniger von jener der Faschisten. Zynisch wurden Verluste eingeplant, die „Heimholung verlorener Ostgebiete“ anvisiert, alte Wehrmachtspläne neu geschmiedet.

Mehr und mehr spürte Winzer, daß er abermals mißbraucht wurde. Er hatte wiederum Jahre und Kraft in etwas Falsches investiert. Heimlich hörte er nun den DDR-Rundfunk, las Bücher „aus dem Osten“. Seine Frau stammte aus „gutem Hause“ und war streng konservativ. Er konnte ihr nicht verraten, was in ihm vorging. Im März 1960 wurden er und andere Offiziere zur Entgegennahme „neuer Richtlinien“ nach Karlsruhe geladen. Es ging darum, den gerade gegründeten Verband der Bundeswehrreservisten zur Heimatschutztruppe auszubauen, die in „Notstandssituationen“ gegen Gewerkschaften und „andere schädliche Kräfte“ aktiv werden sollte. Einige mutige Offiziere sprachen von einer neuen „Schwarzen Reichswehr“. Kritik an Strauß, dem Bundesverteidigungsminister, wurde laut. Winzer, inzwischen Major, hielt alles auf Tonbändern fest. Als Strauß Wochen später deren Herausgabe forderte und verlangte, die Kritiker zu überführen und mundtot zu machen, wußte Winzer, was er nun zu tun hatte. Im Mai 1960 begab er sich in die DDR. Seine Frau folgte ihm widerwillig und kehrte später in den Westen zurück.

Zwei Monate danach stellte man den ehemaligen Bundeswehr-Stabsoffizier Bruno Winzer auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin den staunenden Journalisten vor. Er hatte die Tonbänder und anderes brisantes Material mitgebracht, erläuterte die Bonner Kriegspläne anhand einer Karte.

War die Bundeswehr also jemals eine – wie behauptet – reine Verteidigungsarmee? Wohl kaum!

Sie wurde von Beginn an als ein Instrument des Krieges von alten Geheimdienstlern und Nazis aufgebaut und mit diesen durchsetzt. In Jugoslawien und Afghanistan vollzog sich später das, was der ranghöchste Deserteur der Bonner Armee den Teilnehmern der Pressekonferenz vor 53 Jahren bereits vor Augen geführt hatte.

Bruno Winzer wurde DDR-Bürger und arbeitete als Journalist. Mit der Fernsehserie „Vermißte sagen aus“ hatte er zu tun. Über sein weiteres Leben gibt es unterschiedliche Auskünfte. In einem von Gehässigkeit strotzenden „Spiegel“-Artikel, der im Januar 1968 erschien, war die Rede davon, er habe die DDR 1967 wieder verlassen. Doch wie auch immer der weitere Weg dieses Mannes gewesen sein mag, die Wahrheit seiner Enthüllungen zum Charakter der Bundeswehr hat Bestand.