RotFuchs 223 – August 2016

Bertolt Brecht: Dichtung für Lebende und Nachgeborene

„Daß der Mensch dem Menschen
ein Helfer ist“

Marianne Walz

Bertolt Brecht (1898 bis 1956) beschritt neue Wege in der Lyrik und vor allem in der Dramatik. Er war ein Aufklärer im traditionellen wie im neueren Sinne: Seine bekennend revolutionär-marxistische Ver-Dichtung der Wirklichkeit entrückt nicht ins emotional Innerliche, sondern sie verbündet das Fühlen mit dem Verstand und dem Verstehen. Brechts Name wurde zum prägenden Begriff für eine einflußreiche literarische und dramaturgische Strömung. Hunderte Intellektuelle arbeiten sich bis heute am analytischen Durchdringen und Ausdeuten Brechtscher Dramen, Gedichte oder Prosatexte ab. Aus der Vielzahl der Brecht-Editionen sei eine besondere ausgewählt: die 1966 im Kinderbuchverlag Berlin erschienene, von Rosemarie Hill und Herta Ramthun redigierte und von Elizabeth Shaw illustrierte Ausgabe mit dem schlichten Titel „Ein Kinderbuch“.

Karikatur: Elizabeth Shaw

Karikatur: Elizabeth Shaw

Sein Todestag 1956 jährt sich am 14. August zum sechzigsten Mal. Der 1898 in Augsburg geborene Sohn eines kaufmännischen Angestellten hatte mit markanten Werken wie dem Bühnenstück „Trommeln in der Nacht“ (1919) und Gedichten wie „Erinnerung an die Marie A.“ (1920) früh sein kritisch-avantgardistisch inspiriertes Schaffen entfaltet. In den revolutionär bewegten, freigeistig blühenden 20er-Jahren fiel es auf fruchtbaren Boden. Ab 1922 konzentrierte er sich zuerst in München und später in Berlin auf das Theater. Seine „Dreigroschenoper“ (1928, Musik: Kurt Weill) wurde zu einem der meistgespielten Stücke, Lieder wie „Mackie Messer“ oder „Die Seeräuber-Jenny“ zu Gassenhauern. Brecht floh 1933 vor Hitlers Mördern und Kulturschändern über mehrere europäische Länder nach den USA. Der große Dichter des 20. Jahrhunderts, bei der US-Regierung und in deren Besatzungszonen wegen „unamerikanischer Umtriebe“ beschimpft und boykottiert, fand ab 1948 in Ostberlin (der späteren Hauptstadt der DDR) seine künstlerische und politische Heimat. Er feierte 1949 bei der Uraufführung von „Mutter Courage und ihre Kinder“ mit Ehefrau Helene Weigel in der Hauptrolle einen bahnbrechenden Erfolg und gründete das weltberühmte Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. So weit einige der biographischen und schaffensbezogenen Eckdaten – doch wo beginnen mit der Würdigung des Brechtschen Werkes? Mit der „Erinnerung an die Marie A.“, das zu den meistpublizierten Liebesgedichten gehört und in fast keinem gymnasialen Lesebuch fehlt? Mit dem Bühnenstück „Trommeln in der Nacht“, das unter dem Eindruck der Novemberrevolution entstand? Mit der „Ballade vom toten Soldaten“ (1918), jenem aufrüttelnden Antikriegstext, kühl-satirische Reflexion auf die Greuel der Schlachtfelder? Mit großen politisch-dramatischen Würfen wie dem Lehrstück über den Spanienkrieg „Die Gewehre der Frau Carrar“ (1936), mit „Der gute Mensch von Sezuan“ (1939) und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ (1929), zwei Lehrstücken über das sogenannte Gute im Menschen und die sozialen Verhältnisse, oder mit „Die Tage der Commune“ (1949), einer Parabel über Macht und revolutionäre Gewalt? Brecht hat konsequent seine Idee verwirklicht: Nicht in tief mitfühlende Versenkung in den Helden, sein Streben und Leiden sollen die Leser bzw. Theaterzuschauer fallen, sondern sie sollen eine das Lernen ermöglichende Draufsicht auf gesellschaftlich bedingte Beziehungen gewinnen. Im epischen und dialektischen Theater liegt Brechts geniale Leistung. Sie knüpft an das aufklärerische Erbe der klassischen deutschen Literatur an, Goethes und Schillers theatralische Mission wird quasi „entstaubt“ und die Bühne der Neuzeit wieder zu einer Stätte der fortschrittlich sozialen Bildung und Erziehung. Selbst die antikommunistischen Eiferer unter den Literaturprofessoren kommen nicht umhin, Brecht das Verdienst um die Innovation der Dramatik zu bescheinigen – ihm, Bertolt Brecht, dem Verfasser von „Lob des Kommunismus“ (1931) und des Solidaritätsliedes (1930, Musik: Hanns Eisler), dem Träger des Internationalen Lenin-Friedenspreises und des DDR-Nationalpreises. Doch mögen die gelehrten Germanisten sich um intellektuelle Feinheiten der Texte streiten, die Kulturhistoriker über biographische Exzentrizitäten des Dichters räsonieren, Bildungsbürger in gepflegten Konversationszirkeln sich mit Brechtzitaten schmücken. Meine persönliche Beziehung zu Brechts Werk entstand vor über 50 Jahren und stammt aus einem Kinderbuch, dem mir liebsten unter meinen mittlerweile vielen Brecht-Bänden. Da steht zum Beispiel der leicht lernbare Vers vom Lehrer zu Padua: „In dem Jahr sechzehnhundertneun / Schien das Licht des Wissens hell / Zu Padua aus einem kleinen Haus. / Galileo Galileo rechnet aus: / Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell.“ Da sind auch philosophische Fragen abgehandelt, die Zwölfjährige bewegen: „Was ist schön? Schön ist es, wenn man die Schwierigkeiten löst. Schön ist also ein Tun.“ Und natürlich fehlen nicht die „Bitten der Kinder. Die Häuser sollen nicht brennen. Bomber soll man nicht kennen.“ Die anrührende Kinderhymne „Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand“ wäre wahrhaftig für die 1990 beitrittsvergrößerte Republik die bessere Nationalhymne gewesen als das militaristisch verschlissene Deutschlandlied. Seite für Seite und Zeile für Zeile beschaue ich, längst erwachsen geworden und inzwischen recht gut belesen, das Buch mit den Zeichnungen von Elizabeth Shaw. „Fragen eines lesenden Arbeiters“ erkenne ich wieder, das „Aufbaulied“ und „Lob des Lernens“, die vielzitierte „Pappel vom Karlsplatz“, die tiefsinnig-ulkigen „Tierverse“, die Geschichte von den Teppichwebern von Kujan-Bulak, wie sie Lenin ehrten, und sogar die Tragödie vom „Kinderkreuzzug“. Was ich hingegen in der Auswahl für die Kinder nicht finde, sind die Zeilen „An die Nachgeborenen“ (um 1938), meinen heutigen Brecht-Lieblingstext: „Dabei wissen wir doch: / Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser. Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein. / Ihr aber, wenn es so weit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.“