RotFuchs 196 – Mai 2014

Vor 85 Jahren ließ SPD-Polizeipräsident Zörgiebel
auf Arbeiter schießen

Der Berliner Blutmai

Günter Freyer

Nachdem der Internationale Arbeiterverlag der KPD in den 20er Jahren neben Parteiliteratur bereits Romane und Erzählungen fortschrittlich-demokratischer Autoren veröffentlicht hatte, beschloß die Partei, auch die Arbeiten revolutionär-proletarischer Schriftsteller zu publizieren. Hans Marchwitza, Karl Grünberg, Hans Lorbeer, Willi Bredel, Jan Petersen u. a. hatten 1928 den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller gegründet, dem sich auch namhafte ehemals linksbürgerliche Literaten wie Anna Seghers, Johannes R. Becher, Ludwig Renn und Erich Weinert anschlossen. Um den Arbeitern den Kauf guter Literatur zu ermöglichen, setzte man den Preis niedrig an und nannte die Edition „Der rote 1-Mark-Roman“. 1931 erschien in dieser Reihe auch ein schmales Bändchen von Klaus Neukrantz, das den Titel „Barrikaden am Wedding“ trug.

Hintergrund des reporta-gehaften Romans waren die Ereignisse vom 1. Mai 1929 in Berlin. Damals – vor 85 Jahren – hatte Polizeipräsident Karl Zörgiebel (SPD) in Abstimmung mit seinen Parteigenossen in der preußischen Regierung die Maidemonstration der Berliner Arbeiter verboten. Offensichtlich wollte die sozialdemokratisch gelenkte Staatsmacht den Kommunisten einen Schlag versetzen, zumal die KPD in dieser Krisenzeit rasch anwachsende Zustimmung erfuhr. Fast 16 000 Frauen und Männer, in 250 Betriebs- und etwa 200 Straßenzellen organisiert, gehörten ihr allein in der Hauptstadt an. Bei der Reichstagswahl 1928 stimmten 742 335 Berliner für die Partei Ernst Thälmanns. Das bedeutete gegenüber 1924 einen Zuwachs von etwa einer Viertelmillion Stimmen. Man sprach bereits vom „roten Berlin“.

In dieser Situation wollten die Herrschenden den Arbeitern, deren soziale Lage sich von Monat zu Monat verschlechterte, Angst einjagen. Elende Massenquartiere, Hunger und Krankheiten prägten damals die Proletarierviertel. Trotz bis zu 12stündigen Arbeitszeiten am Tag konnten die Ausgebeuteten ihre Familien kaum ernähren. Auf der anderen Seite protzte die Bourgeoisie mit ihrem Reichtum. Heftige soziale Spannungen, Unruhen, Streiks und Demonstrationen waren die Folge.

Zörgiebels Verbot betraf sämtliche Kundgebungen, Aufzüge und Versammlungen unter freiem Himmel. Rigoros lehnte er die Aufforderung des Großberliner Maikomitees ab, diese Entscheidung zurückzunehmen. Der Polizeipräsident wollte die Machtprobe, die Konfrontation, und er suchte sie offensichtlich blutig. Deshalb versetzte er rund 14 000 Polizisten mit gepanzerten Fahrzeugen, Maschinengewehren, Karabinern, Handgranaten und scharfen Hunden in Alarmbereitschaft. Er gab ihnen grünes Licht, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen.

Die Berliner Arbeiter dachten nicht daran, 1929 auf ihre bereits seit 40 Jahren zur Tradition gewordene Maikundgebung zu verzichten. 200 000 von ihnen gingen auf die Straße, um für Arbeit und Brot zu demonstrieren. Kaum hatten sich die Teilnehmer jedoch an ihren Sammelplätzen eingefunden, da setzte bereits der Polizeiterror ein. Mit unglaublicher Brutalität gingen die Büttel unterschiedslos gegen Männer, Frauen und Kinder vor, prügelten und schossen in die Menge. Soweit es ihnen möglich war, setzten sich die Angegriffenen zur Wehr. In Neukölln, Lichtenberg, am Hackeschen Markt und am Bülowplatz, vor allem aber im roten Wedding kam es zu blutigen Straßenschlachten.

Klaus Neukrantz konzentriert sich in seinem Roman auf die Schilderung des Geschehens im Wedding. Das Gebiet um die Kösliner Straße war das Wirkungsfeld der 145. Straßenzelle der KPD. Es galt als der ärmste Ort Berlins. Hier kämpften die Anwohner am hartnäckigsten. Sie errichteten Barrikaden und verteidigten sich drei Tage lang mit Pflastersteinen und anderen Wurfgeschossen. Am Ende beklagten sie zehn Tote und 150 Verwundete. Das erste Opfer war der 52jährige Klempner Max Gemeinhardt, Mitglied der SPD. Wenige Tage nach dem Blutmai, der insgesamt 31 Getötete und viele hundert Verletzte gefordert hatte, trat ein Untersuchungsausschuß zusammen, dem Carl von Ossietzky, Alfred Döblin, Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch, Otto Nuschke und weitere namhafte linksbürgerliche Demokraten angehörten. Er vernahm mehr als 300 Zeugen, auf deren Berichte sich Autor Neukrantz stützte.

Zugleich suchte dieser mit seinem Charlottenburger Genossen Willi Pankow die Menschen in der Kösliner Straße auf. So erhielt sein Roman dokumentarischen Charakter. Als dieser Anfang 1931 erschien, wurde er sofort in ganz Deutschland verboten und der Verfasser aus dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller ausgeschlossen. Doch das Buch kam in mehreren Ländern heraus.

Über Klaus Neukrantz ist leider nur wenig bekannt. Vom Jahrgang 1897, stammte er aus einer bürgerlichen Familie, meldete sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst, den er vier Jahre lang im Schützengraben ableistete. Später arbeitete er im Bezirksamt Berlin-Kreuzberg, wo er dem Betriebsrat angehörte.

1923 trat er in die KPD ein. Inzwischen Journalist, schrieb er für „Die Rote Fahne“, die „Welt am Abend“ und andere linke Blätter. Überdies galt er als Pionier der Nutzung des Rundfunks für Zwecke politischer Bildung. Im März 1933 verhafteten ihn die Faschisten. Sein Leidensweg führte durch Haftanstalten und Konzentrationslager. 1941 soll er ermordet worden sein.

Übrigens teilte der sozialdemokratische „Vorwärts“ am 5. November 1930 folgendes mit: „Genosse Zörgiebel, der in den einstweiligen Ruhestand tritt, gewiß aber bald einen seinen hohen Verdiensten und Fähigkeiten entsprechenden Wirkungskreis finden wird, hat sich während der Jahre seiner Berliner Wirksamkeit in den weitesten Kreisen der Bevölkerung Achtung und Sympathie erworben. Wer sein Wirken aus nächster Nähe zu verfolgen Gelegenheit hatte, weiß, daß Menschlichkeit und der Wille zu helfen und zu schützen stets seine leitenden Gesichtspunkte waren.“