RotFuchs 217 – Februar 2016

Der syrische Leidensweg

Jobst-Heinrich Müller

Jetzt ist der seit 2011 angestrebte „Regime Change“ – wie dessen Regisseure die systematische Demontage der Syrischen Arabischen Republik mit ihren ursprünglich 22,5 Millionen Bürgern bezeichnen – bereits im fünften Jahr.

Seit 2011 haben die ununterbrochenen Kampfhandlungen und der Terror etwa elf Millionen Landesbürger ihrer Heimstatt beraubt. Vier Millionen Syrer sind ins Ausland geflohen. Die völkerrechtlich fixierten Grenzen von 1946 werden von den Aggressoren und deren Hintermännern seit Jahr und Tag nicht mehr respektiert.

Mit den vor allem in der BRD ankommenden Refugees – den Flüchtlingsströmen – fällt etwas von der Verantwortung für das Geschehen auf jene zurück, die zu den eigentlichen Schuldigen oder zumindest aktiv Beteiligten am Leidensweg des syrischen Volkes gehören.

Collage: Heinrich Ruynat

Die staatliche Formierung Syriens erfolgte unter extremen Qualen. Es handelte sich um eine äußerst schwierige Geburt. Das von 1516 bis 1918 zum Osmanischen Reich zählende Territorium wurde mit dem imperialistischen „Sykes-Picot-Abkommen“ in französische und britische Interessenzonen zerteilt. Bevor Syrien als unabhängiger Reststaat aus der französischen Besatzung entlassen wurde, spalteten die Kolonialherren noch den Libanon ab und gliederten das Gebiet um Iskendurun sowie einen kurdischen Streifen der Türkei an. Aus diesem flohen bis 1960 etwa 200 000 Kurden nach Syrien. Dort entstand ein Staat aus unterschiedlichen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften: 74 % sind Sunniten, 10 % Christen, 10 % libertäre Aleviten und etwa 3 % Drusen. Unter den Sunniten taten sich die „Moslembrüder“ als fundamentalistische Interessengruppe besonders hervor. 1980 und 1982 unternahmen sie bewaffnete Umsturzversuche. Als Handlanger der Imperialisten stritten sich derweil willige Interessenvertreter der Kompradoren-Bourgeoisie, der Großgrundbesitzer und Unternehmer sowie Stammes-Lobbyisten um Vorrangpositionen. Allein von 1946 bis 1949 fanden in Syrien drei Militärputsche statt.

Wie sollte aus einem solchen Land mit willkürlich gezogenen Grenzen und derartigen Zentrifugalkräften eine die Vormundschaft Europas und der USA abstreifende starke freie Nation mit innerem Zusammenhalt werden?

General a. D. Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, erklärte in einem Interview mit der „Lüneburger Zeitung“ am 21.10.2015:

„Das Eingreifen Rußlands hat die Lage in diesem Krieg grundlegend geändert, was klarer wird, wenn man die Sache vom Ende her durchdenkt: Hätte Moskau nicht eingegriffen, wäre die syrische Armee und mit ihr das Regime Assads in einigen Wochen am Ende gewesen. Dann hätten die Verbrecherhorden vom Islamischen Staat das Regime übernommen.“

Die Antwort gab damals die 1946 gegründete Arabische Sozialistische Baath-Partei, die in Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser ihr Vorbild sah. Sie stützte sich auf moderne laizistische Kräfte in Armee und Bildungsbürgertum und gelangte am 30. September 1961 an die Macht. Später beschritt die Regierung von General Hafez Al Assad allen Widerständen zum Trotz einen neuen Weg. Sie tat das trotz der 1957 verkündeten „Eisenhower-Doktrin“ zur aggressiven Etablierung antisowjetischer Machtverhältnisse auch im arabischen Raum, wobei sie auf enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu den sozialistischen Ländern setzte. Diese erfolgreiche Politik des seinerzeitigen Präsidenten und Vaters des heutigen Staatschefs fand noch vor seinem Tod im Jahr 2000 durch den Zusammenbruch des RGW und des Warschauer Vertrags-Systems ein jähes Ende. Unter Assad sen. hatte Syrien eine positive Außenhandelsbilanz, einen hohen Bildungsstand, soziale Sicherheit für das Volk und solide Arbeit in florierenden überwiegend staatlichen Unternehmen. Viele nichtpaktgebundene Staaten fühlten sich mit Syrien verbunden. Sein politisches System beruhte auf der Einbindung mitwirkungswilliger Kräfte aller Schichten, Religionsgemeinschaften und Stämme. Bedingung war, daß Religion und Staat getrennt blieben und die Ziele des „arabischen Sozialismus“ anerkannt wurden.

Für die imperialistischen Planer war das ein strategisches Risiko. Als Ziel wurde die Eliminierung des „Assad-Regimes“ um jeden Preis proklamiert, um dem internationalen Kapital erneuten Zugriff auf das syrische Volksvermögen zu verschaffen. William Roewuck, seinerzeit US-Botschafter in Damaskus, bereitete den Regime Change vor, um Assad Junior aus dem Sattel zu stoßen.

Ansatzpunkte bot dabei die seit dem Tod seines Vaters veränderte wirtschaftliche und innenpolitische Situation des Landes. Dieser Wandel hatte mit dem Ende der sozialistischen Staatengemeinschaft begonnen. Der reformbereite und politisch unerfahrene junge Präsident sollte mit Hilfe geheimdienstlicher Manipulationen ausgeschaltet werden.

2011, zur Zeit des „Arabischen Frühlings“, organisierten die Moslembrüder, ambitionierte Bourgeois und durch den Internettaumel verwirrte Studenten Straßenkrawalle, unter die sich westliche Agenten und Terroristen mischten, die mit Bombenanschlägen für Unruhe sorgten. Die Ordnungsgewalt aber lag in Händen örtlicher Befehlshaber, die oftmals überreagierten oder ihr eigenes Süppchen kochten.

Privatisierungen und Verteuerung lebenswichtiger Güter sowie die Einschränkung kostenfreier Studienmöglichkeiten und der Wegfall sozialer Sicherungssysteme lösten Unmut und die Forderung nach „Reformen“ aus. Sie gipfelten schon bald in der Parole „Assad muß weg!“ Das wurde zur Frage von Sein oder Nichtsein des syrischen Staates, der immer mehr zerfiel oder in Teilen unter die Kontrolle von Terrorbanden geriet. Bis 2012 hatte man bei der Zerschlagung Syriens das libysche Modell vor Augen: Die Armee sollte ausgeschaltet und die Infrastruktur des Landes zerstört werden. Man bewaffnete und finanzierte immer neue Terroristengruppen, darunter 20 000 beim IS untergekrochene ausländische Desperados. Dabei treibt die überwiegend aus Vorzeigedeserteuren der Regierungstruppen zusammengeschusterte „Freie Syrische Armee“ gemeinsam mit etlichen „Exilregierungen“ ihr proimperialistisches Spiel. Überall war die BRD mit von der Partie. Nicht zufällig hatte die Bundeswehr in der Türkei ihre „Patriot“-Raketen stationiert und das Spionageschiff „Oker“ vor die syrische Küste beordert.

Es waren der Widerstand einiger Staaten mit Rußland an der Spitze sowie das wieder zunehmende Stehvermögen der regulären syrischen Armee, welche die Pläne des Imperialismus durchkreuzten. Das militärische Eingreifen der russischen Luftwaffe zwang auch andere Staaten zu ursprünglich kaum geplanten Aktivitäten. Eine konstruktive Konfliktlösung ist noch nicht in Sicht.