RotFuchs 187 – August 2013

Dialog mit einem Urgroßvater:
Erinnern an J. K.

Prof. Dr. Herbert Meißner

Im September 2014 wäre J. K., wie er sich selbst gerne nannte, 110 Jahre alt geworden. Doch am 6. August vor 16 Jahren starb der am 17. 9. 1904 Geborene.

Wer war dieser Mann, dessen Name fast jedem politisch Interessierten schon irgendwo begegnet ist? Erstens war er ein Vollblutwissenschaftler, der in den 40 Bänden seiner Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus nicht nur die soziale Entwicklung in verschiedenen Ländern und Zeiten untersuchte. Mehr als das: Er stellte den Zusammenhang zwischen sozialer Lage, politischen Bedingungen, kulturellen Zuständen und der Widerspiegelung all dessen in Kunst, Literatur und Philosophie her. So verfaßte er literatur- und kunstgeschichtliche Essays, welche selbst Fachleute verblüfften.

Da die englischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo den Hauptanteil an der Entstehung der wissenschaftlichen politischen Ökonomie hatten, beschäftigte sich J. K. besonders auch mit der britischen Literatur dieser Zeit. Dabei steht Shakespeare mit seinen Königsdramen und dem „Kaufmann von Venedig“ im Mittelpunkt. J. K. ergründete aber auch Defoe, Swift und andere. Arbeiten über Dürrenmatt, Theodor Fontane und Heinrich Böll vervollständigten das Bild. Ein derart breites Spektrum außer dem eigentlichen Hauptarbeitsgebiet findet man wohl bei keinem anderen Wirtschaftshistoriker oder Ökonomen. Es geht in der Tat um die universale Gelehrsamkeit des J. K.

Seinem Hauptwerk fügte er noch zehn Bände Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften und fünf Bände einer Geschichte des Alltags des deutschen Volkes hinzu. Seine Publikationsliste umfaßte insgesamt 3150 Titel.

An der Berliner Humboldt-Universität übernahm J. K. 1946 den Lehrstuhl für Politische Ökonomie, während er an der Akademie der Wissenschaften das Institut für Wirtschaftsgeschichte – das international größte seiner Art – gründete.

Als Hochschullehrer wurde er zum Vorbild für mehrere Studentengenerationen. Als Institutsdirektor an der Akademie führte er ein Forscherkollektiv zu international beachteten Höchstleistungen und brachte Doktoranden unkonventionelles wissenschaftliches Denken bei. Diese Art des Herangehens beruhte auf dem von seinem Elternhaus geförderten systematischen Studium des Marxismus. Ein Jahr nach der Promotion schrieb er 1926 sein erstes Buch „Zurück zu Marx“. Die seitdem erfolgte ständige Vertiefung seines marxistischen Wissens, in die dann selbstverständlich auch Lenin einbezogen wurde, war die Grundlage des gesamten Wirkens von J. K.

Sein Verständnis des Marxismus beinhaltete natürlich auch durchaus undogmatisches Denken und Formulieren. Daraus folgte, daß er wiederholt mit verschiedenen Theoremen damaliger Wissenschaftspolitik in Konflikt geriet. So wandte er sich gegen die seinerzeit in der Sowjetunion wie in der DDR herrschende These, daß Soziologie nur bürgerliche Apologetik und Pseudowissenschaft sei. Er forderte die Entwicklung einer eigenen marxistischen Soziologie und förderte so die längst nicht mehr umstrittene marxistische soziologische Forschung.

Als im Rahmen der Akademiereform sein Institut aufgelöst und dem Institut für Geschichte eingegliedert werden sollte, begab er sich zum Generalsekretär der Partei, erwirkte die Korrektur dieser Festlegung und erhielt damit die Selbständigkeit seines Forschungskollektivs. Solche Widersprüche und Auseinandersetzungen veranlaßten ihn jedoch nicht dazu, der DDR wie Hans Mayer oder Ernst Bloch den Rücken zu kehren. Er empfand sie bis zuletzt als seinen Staat, dessen Interessen er trotz aller Widersprüchlichkeiten voll vertrat. Dies wird in seinem „Dialog mit meinem Urenkel“ (1983), der innerhalb und außerhalb der DDR große Aufmerksamkeit erfuhr, besonders deutlich.

Konsequentes marxistisches Denken schließt jedoch auch politisches Handeln ein. Schon die Wahl des Hauptthemas seiner Forschungsarbeit „Lage der Arbeiter im Kapitalismus“ zeugt von der engen Beziehung des Wissenschaftlers zur Arbeiterbewegung. 1930 wurde er Mitglied der KPD, sammelte Wirtschaftsdaten und stellte seine Analysen der Reichsleitung der Partei zur Verfügung. J. K. wurde Wirtschaftsredakteur der „Roten Fahne“ und veröffentlichte seine Beiträge in vielen linken Publikationen. Bis 1936 arbeitete er noch in Deutschland, zeitweilig auch illegal. Als er dann mit dem Einverständnis der Partei und der Hilfe seiner Eltern nach England emigrierte, setzte er dort sowohl seine wissenschaftliche als auch seine politische Arbeit fort. In Organen der Partei und antifaschistischen Organisationen nahm er weiter am Kampf teil.

J. K. war Kommunist und der Sache der Arbeiterklasse sowohl in Zeiten des Sieges als auch der Niederlagen in unverbrüchlicher Treue verbunden. Seine Aktivitäten gegen Nazi-Deutschland verdienen höchste Anerkennung. So war Jürgen Kuczynski eine herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte, die auch weiterhin in besonderem Maße öffentliche Wahrnehmung und ehrendes Gedenken verdient.