RotFuchs 236 – September 2017

Gedanken zur Zeit

Die Würde der Behörden ist unantastbar

Theodor Weißenborn

Im Fernsehen wurde über eine Musikerin, eine Violinistin, berichtet, die, hochbetagt, ihre Wohnung hatte räumen sollen und nach einer temperamentvollen Auseinander­setzung mit ihrem Hauswirt laut Gerichtsbeschluß als „tobsüchtig“ in die Psychiatrie eingewiesen worden war.

Die Behördenangestellten, die mit der Auflösung ihres Hausstandes betraut waren, hatten offenbar nicht damit gerechnet, daß sie je wieder aus der Klinik entlassen werden würde, und hatten ihre gesamte Habe kurzerhand auf die Straße zum Sperr­müll gestellt: außer altgedientem Mobiliar vor allem Kartons mit Büchern, Noten, Fotos, Briefen und persönlichen Aufzeichnungen, kurz das Unschätzbare, nicht Quantifizierbare, Unersetzliche.

Dann aber geschah das Unerhörte: Ein junger Arzt, der die alte Dame in der Klinik untersucht hatte, erklärte sie für gesund, attestierte ihr eine bemerkenswerte Selbst­kompetenz und Persönlichkeitsstärke, nannte ihre Zornausbrüche situationsgerecht, völlig adäquat und sozial zumutbar und sorgte für ihre umgehende Entlassung.

Inzwischen war aber die Sperrmüllabfuhr dagewesen – und der Schaden, der Verlust der gesamten persönlichen Habe der alten Dame, war irreversibel. Man hatte der Frau den Schlüssel zu ihrer – nunmehr leeren – Wohnung zurückgegeben und ihr süßsäu­erlich alles Gute gewünscht.

Eine Woche später, nach neuerlicher Intervention des Hauswirts, hatte man die Frau in ihrer Wohnung aufgesucht und sie in der Toilette angetroffen. Sie habe keine an­dere Sitzgelegenheit, hatte die Frau gesagt. Sie besaß weder Bett noch Stuhl, noch Tisch und hatte, da sie auch keine Gardinen mehr besaß, die Fensterscheiben mit Zeitungen zugeklebt. Das sah (auch von außen) nicht gut aus. So war sie erneut auf­fällig geworden.

Zudem hatte sie nichts gegessen, wollte auch keine Nahrung zu sich nehmen – es sei ihr, so sagte sie, der Appetit vergangen –, und folglich wurde sie erneut in die Klinik gebracht.

Jetzt hatte man sie wieder da, wo man sie haben wollte, und ihr weiteres Schicksal würde wiederum abhängen vom austauschbaren Urteil launischer Ärzte, die je nach Studiengang und Lehrmeinung zu unterschiedlichen Diagnosen und Prognosen gelan­gten (bei denen jeder dreimal raten durfte), die je nach Plan (es ging reihum) auf der Aufnahmestation gerade Tag- oder Nachtdienst hatten und die sich durch die Bank eher als Agenten der Behörden denn der Patienten verstanden. (Die Leute vom Sozial­amt, so sagte der Kommentator, hatten innerhalb ihres Ermessensspielraums korrekt nach Vorschrift gehandelt.)

Mir schnürte es die Kehle. Das Entsetzlichste war, dachte ich, daß die Frau ihre per­sönliche Habe verloren hatte, daß sie des Speichers ihrer Erinnerungen, ihrer geisti­gen Nahrung, ihrer Lebensgeschichte, ihrer Welt und somit ihrer Identität beraubt war.

Das Wichtigste, das sie ihr Leben lang verwahrt hatte: Fotos, Notizen, Briefe, die Träger von Ideen, die unerschöpflichen Stimulantien der Phantasie, kurz: ihr persön­licher Kosmos hätte womöglich Raum gehabt in einer Plastiktüte, die man ihr hätte mitgeben können, die sie bei sich getragen hätte wie ihren Kopf. Den, immerhin, hatte man ihr gelassen, aber man würde ihn vollstopfen mit Surrogaten und Giften.

Kein Buch, kein Foto, kein Brief – nicht einmal eine Tüte. Nun mußte sie das Verlore­ne, Vergangene in ihrem Innern tragen, sich die verlöschenden Bilder ihrer Welt vor ihr inneres Auge halten, ganz nah, um sie zu erkennen, einmal noch zu sehen in einem schon verdämmernden Licht. Nur dies noch war ihr geblieben: das, was sie sah, wenn sie die Augen schloß. Dieser Frau war behördlicherseits recht geschehen. Sie war Humanobjekt des Sozialvollzugs, und was noch ausstand, war lediglich die Vollstreckung der Finalbetreuung.

Karikatur: Klaus Stuttmann