RotFuchs 235 – August 2017

„Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“

Dreißig Jahre Dialogpapier
von SED und SPD

Prof. Dr. Horst Schneider

Vor dreißig Jahren, am 27. August 1987, erlebten politisch Interessierte eine Sensa­tion. An jenem Tag wurde das Dialogpapier von SED und SPD „Der Streit der Ideolo­gien …“ veröffentlicht. Wer das Dokument mit den Augen von heute betrachtet, kann kaum glauben, daß so etwas zwischen SPD und SED vereinbart wurde. Schon der erste Abschnitt war ein Paukenschlag: „Unsere weltgeschichtlich neue Situation besteht darin, daß die Menschheit nur noch gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen kann. Eine solche Alternative ist historisch ohne Beispiel. Sie verlangt ein politisches Denken, das historisch ebenfalls ohne Beispiel ist, ein neues Herangehen an die internationalen Angelegenheiten, besonders an die Sicherung des Friedens. Der Krieg darf im Nuklearzeitalter kein Mittel der Politik mehr sein.“

Mit diesem Bekenntnis übernahmen Politiker die Mahnung der Atomphysiker und Friedenskräfte, für die hier die Worte Lord Bertrand Russells stehen: „Es gibt gegen diesen irrsinnigen Wettlauf in den Tod nur ein Mittel: auf dem Absatz kehrtzumachen und, statt in die totale Selbstvernichtung, dem Leben und der Zukunft entgegenzu­gehen.“ (1959)

Zwingt die geschichtliche Entwicklung seit 1990, diese Erkenntnis zu korrigieren? Welche Menschheitsprobleme sind durch die NATO-Kriege unter deutscher Beteili­gung gelöst worden?

Am 7. Mai – unmittelbar vor dem Jahrestag der Befreiung vom Faschismus – ertönt im „Spiegel“ die Kriegsfanfare eines Christian Neef: „Die Antwort auf die aggressive russische Militärstrategie muß lauten: Nicht die Erhöhung der Militärausgaben ist entscheidend, sondern die Entschlossenheit, zur Abschreckung gegebenenfalls auch militärische Signale zu senden.“ Was sind das für „Signale“? Natürlich ist Neef die Stimme seiner Herrn, und die geben Anlaß, wie wir sehen, die Aktualität des Dialog­papiers zu betonen.

Worin bestand das damals Herausragende und heute zu Bedenkende?

Das Dokument entstand als Dokument der SED, die in der sozialistischen DDR regierte, und der SPD, die in der imperialistischen BRD Opposition war. Es war die erste gemeinsame Erklärung von Kommunisten und Sozialdemokraten seit der Spal­tung im ersten Weltkrieg. Gegenstand des Dokuments war die wichtigste Frage der Menschheit, die gemeinsame Sicherheit, die vom Atomkrieg bedroht war.

Seit der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO und der Helsinki-Konferenz verstärkten sich Elemente der Entspannungspolitik. Die SED setzte damit die Kette der Gesprächsangebote fort, die Walter Ulbricht am 27. April 1966 begründet hatte: „Wir betrachten die Diskussion mit der SPD nicht als eine Art Freistilringen im Schlammbad, bei dem jeder Griff erlaubt ist. Wir führen die Diskussion mit der SPD sachlich mit dem Ziel der Annäherung und Verständigung. Und dabei bleiben wir.“

Das „Dialogpapier“ enthält in fünf Abschnitten in Thesenform die Ziele und Grund­sätze, zu denen sich beide Parteien bekannten. Im zweiten Abschnitt folgen Vor­schläge für den Wettbewerb der Systeme, der ausschließlich mit friedlichen Mitteln ausgetragen werden darf.

Aus heutiger Sicht mag es merkwürdig erscheinen, daß die folgenden drei Abschnitte sich mit der Kultur des politischen Streits und des Dialogs beschäftigen. Zunächst ging es um die Notwendigkeit des Dialogs, die sich aus bitteren geschichtlichen Erfahrungen ergab, die Darstellung der entstandenen Lage und die Gegenüberstellung unterschiedlicher Standpunkte in wichtigen Fragen der Politik. „Es muß zum Normal­fall werden, daß wir miteinander handeln, verhandeln und zusammenarbeiten, wäh­rend wir gleichzeitig die offene und klare Kritik äußern können …“ Die Verfasser des Papiers einigten sich auf Grundregeln der Kultur des politischen Streits, die ein­schließen, darauf zu verzichten, Machtkonflikte als Kämpfe zwischen Gut und Böse erscheinen zu lassen.

Niemand, der dreißig Jahre später die Weltpolitik betrachtet, wird behaupten, die Lage habe sich verbessert. Auch SPD-Politiker wie Steinmeier und Gabriel beklagen die Situation, aber wissen keinen Ausweg.

War das „Dialogpapier“ ein Schritt auf einem Irrweg? Es sind im Dokument auch Sätze enthalten, die sich als verhängnisvolle Irrtümer erwiesen, vor allem die These von der „Friedensfähigkeit“ des Imperialismus. Wer hätte 1987 vorausgesagt, daß zwölf Jahre später, 1999, das Trio Schröder/Scharping/Fischer die Bundeswehr in Jugoslawien einsetzt und das Völkerrecht bricht? Erhard Eppler, der im Wechsel mit Otto Reinhold die „Dialog-Kommission“ geleitet hatte, erhielt im ND am 26. August 1997 die Möglichkeit zu seinem abschließenden Urteil: „Wenn dieses Papier dazu beigetragen hat, daß 1989 kein Blut geflossen ist – und das hat es wohl –, dann war es richtig.“

Die aktuelle Frage lautet: Wie gehen SPD und Linkspartei heute mit den Erkenntnis­sen und dem Vermächtnis des „Dialogpapiers“ um?