RotFuchs 188 – September 2013

Ein 100-Meter-Lauf der besonderen Art

Johann Weber

Mitglied der SPD in Niederbayern, habe ich mich in den letzten Jahren über die Geschichte der DDR genauer informiert. Sehr hilfreich waren dabei die „RotFuchs“-Ausgaben, die ich fast ausnahmelos – überwiegend mit Hilfe von CDs – gelesen habe. Durch drei Berliner Freunde, die ich über den „RotFuchs“ kennengelernt habe, erfahre ich immer wieder Wissenswertes zur DDR-Geschichte. Beim Studium aller bisher gelesenen Bücher wie des RF kommt mir ein Aspekt zu kurz: die völlig unterschiedlichen Startbedingungen nach dem 8. Mai 1945 für die sowjetische Besatzungszone und die drei Westzonen, aus denen die BRD hervorging.

Nun ist mir ein Büchlein der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart-München in die Hände gekommen. „Requiem auf eine Währung – die Mark“ lautet sein Titel. Dort fand ich manches, was ich anderswo noch nie gelesen hatte.

Die drei Verfasser schildern die Situation nach dem 8. Mai 1945: Bereits im Sommer 1945 wurden in der SBZ sämtliche Altkonten in Höhe von 37 Milliarden Reichsmark gesperrt. Alle bei Banken und Sparkassen deponierten Guthaben wurden gelöscht.

Die UdSSR bezifferte damals ihren Reparationsanspruch auf 10 Mrd. US-Dollar. In der SBZ begannen die Demontagen sofort, im Westen erst ab Januar 1946. Die deutsche Industriekapazität sollte auf 50 bis 55 % ihres Standes von 1938 heruntergefahren werden, was in der SBZ auch geschah.

In den Westzonen gingen nur 8 % der 1945 vorhandenen Kapazität verloren. Das ist etwa der Anstieg von 1938 bis 1945. Ergebnis: Im Westen erfolgte also kein Abschlag gegenüber der Industriekapazität von 1938.

Bereits im August 1947 wurden die Demontagen im Westen gekürzt und 1950 ganz eingestellt. Ihr Gesamtwert belief sich auf ca. 2,5 Mrd. DM.

Wenn man die hier geschilderte Ausgangslage betrachtet, dann hatten die Menschen in der SBZ vielfach schlechtere Startbedingungen als die Bürger der BRD. Alle negativen Faktoren, die vom westlichen Ausland mit der BRD als Vorreiter auf sie einwirkten, sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt. Die Ausgangssituation beider deutscher Staaten möchte ich mit einem 100-m-Lauf vergleichen. Der BRD-Läufer trägt Rennschuhe mit Spikes, ein enges Trikot und startet auf einer Tartanbahn. Der SBZ/DDR-Läufer trägt Turnschuhe, ein weites Trikot und benutzt eine Aschenbahn.

Unter diesen Voraussetzungen müßte der Einlauf eigentlich folgender sein: Als der BRD-Sprinter die Ziellinie erreicht, befindet sich sein DDR-Konkurrent erst bei der 50-m-Marke. Doch tatsächlich verlief das Rennen anders. Als der BRD-Läufer die Ziellinie überschreitet, befindet sich der DDR-Läufer bereits bei der 75-m-Marke. Eine hervorragende Leistung, wenn man die Startbedingungen fair bewertet.

Wie aber ist die Reaktion auf den Rängen?

Siegestaumel bei den BRDlern. Für sie zählt nur der Erfolg, egal, wie er zustande gekommen ist.

Bei den DDRlern ist ein Teil deprimiert. Das Warum der Niederlage wird nicht hinterfragt. Andere resignieren: Da ist eben nichts zu machen. Der Rest aber ist stolz auf die Leistung des Läufers, hat er doch unter ungleich schwierigeren Voraussetzungen mehr erreicht, als ihm von der Sportfachwelt zugebilligt worden war.