RotFuchs 217 – Februar 2016

Compañera Christa: Für junge und jung gebliebene Rotfüchse

Ein Mädchen aus Randberlin (Teil 1)

Christa Kožik

Die Landschaften des Krieges begrünten sich, in jenem Mai 1945, der Europa den Frieden brachte. Wir – meine Mutter, meine ältere Schwester und ich – hatten im Februar die Flucht vor der Ostfront bei Liegnitz nach Thüringen lebend überstanden. Wir waren nicht von Bomben getötet worden, nicht erfroren und nicht verhungert. Dieses Glück ließ uns dankbar und bescheiden sein. Durch den täglichen Lebenskampf um das Beschaffen von Essen, Trinken, Kleidung und Heizmaterial waren die vergangenen Schrecken bald vergessen. Die überlebt hatten, betrauerten die Toten. Sie trösteten sich und andere, teilten, was sie besaßen. Als Flüchtlinge lebten wir arm, aber solidarisch miteinander, und dank guter Gesetze gelang es, daß wir bald in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wurden.

Die spätere Autorin mit ihrer Mutter

Rückblickend bleibt für mich diese Zeit von der Sehnsucht der Menschen nach Frieden und einem gewaltigen Aufbauwillen geprägt. Das gab ihnen eine starke Hoffnung. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt …“ Diese Zeilen der Nationalhymne sangen wir zur Geige unseres wunderbaren Lehrers Fritz Riemann in der Dorfschule. Wir waren arme, aber zugleich auch glückliche Kinder, lebten wir doch in den Frieden hinein und wurden zu Humanismus und Völkerfreundschaft erzogen. Als ich im Alter von zwölf Jahren mein Kinderdorf Wogau bei Jena verlassen mußte, fiel mir der Abschied schwer.

Stahnsdorf bei Berlin war meine dritte Lebensstation. Mutters Onkel Gustav – schon über achtzig und pflegebedürftig – holte uns zu sich. So zogen wir im Sommer 1953 dorthin. Der Umzug verlief dramatisch. Eine Frau, ein dünnes Mädchen und ein Dackel in einer Einkaufstasche fuhren im Zug mit Koffern, Taschen, Federbetten und einem großen Radio von Jena nach Berlin. Dort setzte uns die Bahnpolizei zunächst einmal fest, da wir keine Zuzugsgenehmigung für die Hauptstadt besaßen. Stahnsdorf galt als Randberlin und war überdies Grenzgebiet. Nach 24 Stunden in der Berliner Bahnhofsmission erhielten wir die nötigen Papiere. Onkel Gustavs kleines Haus in der Stahnsdorfer Beethovenstraße bot uns Quartier. Aus dem schlesischen Kriegs- und Flüchtlingskind wurde nun eine Randberlinerin. Der Ort liegt nur wenige Kilometer von Berlin-Wannsee entfernt und besaß damals noch einen S-Bahnhof.

Wir hatten freundliche Nachbarn, und Renate wurde meine Freundin, die mir die neue Heimat zeigte. Wir fuhren mit Fahrrädern zum Baden im Güterfelder See oder halfen beim Entstehen des Stahnsdorfer Schwimmbades, das im Rahmen des „Nationalen Aufbauwerkes“ geschaffen wurde. Das Eintrittsgeld fürs nahe Kino „Parkkiste“ entsprach dem Gegenwert einer leeren Bierflasche mit Porzellanverschluß. Dafür bekamen wir 30 Pfennige, 25 für die Eintrittskarte und fünf für einen Lutscher. Wenn der Gong ertönte und sich der rote Samtvorhang öffnete, war ich wie verzaubert. An die „Feuerrote Blume“ oder „Sturm über Asien“ erinnere ich mich noch heute. Bestimmt haben diese häufigen Kinobesuche den Grundstein für meine spätere Filmtätigkeit gelegt.

In der Stahnsdorfer Grundschule lebte ich mich anfangs schwer ein. Man verspottete mich wegen meines Dialekts. Ich sprach wohl ein handfestes Thüringisch, was ich selbst nur am Gelächter der anderen merkte. Meine Schulfreundin Johanna gab mir unterwegs Sprechunterricht, aber auch Nachhilfe in Russisch. Unser Pionierleben war locker und ohne Militanz. Es gab wöchentliche Pioniernachmittage, einen Mal- und Zeichenzirkel, Chor, Volkstanz und Sportgruppen. Der Pionierleiter hieß Günther und war nicht viel älter als wir. Die Pionierkleidung, blaues Röckchen – weiße Bluse und blaues Halstuch – trugen wir nur zu besonderen Anlässen. Wer das nicht wollte, konnte sich entziehen.

In meinem Fotoalbum ist neben dem Bild in Pionierkleidung auch mein Konfirmationsfoto.

In der 8. Klasse ging ich zum Konfirmandenunterricht. Mutter wollte nicht aus der Reihe tanzen, da damals noch fast alle Schüler daran teilnahmen.

Die Einsegnung erlebte ich indes mit halbem Herzen. Ich lernte das Vaterunser und die zehn Gebote. Freude hatte ich an einigen biblischen Geschichten. Mich störte aber, daß alles so fest gefügt im Imperativ stand. Warum mußte ich Gott lieben und fürchten? Gefürchtet hatte ich mich im Krieg genug. Und warum ließ Gott solche Grausamkeiten überhaupt geschehen? Für meine Mutter war Gott wohl im Krieg gestorben, hatte sie doch in der Nazizeit so viel Schreckliches erlebt.

Nach Abschluß der 8. Klasse wurde ich auf die Oberschule in Kleinmachnow delegiert. Meine Konfirmation war kein Hinderungsgrund.

Die 9. und 10. Klasse habe ich in sehr trauriger Erinnerung. Onkel Gustav hatte Magenkrebs und weigerte sich, ins Krankenhaus zu gehen. Mutter arbeitete als Verkäuferin im Potsdamer Warenhaus, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. So stand ich in der Pflicht, nach dem Schulunterricht meinen Onkel zu pflegen, ihn zu waschen, zu füttern und zu versorgen. Während meine Schulkameradinnen von Elvis Presley, Petticoats und Nylonstrümpfen schwärmten, hatte ich einen todkranken alten Mann zu betreuen. Ich tat es bis zuletzt gern und war erschüttert, als ich ihn eines Morgens tot in seinem Bett fand.

Ich wußte, daß ich Mutter helfen mußte, denn sie war selbst zu erschöpft und durch die schwere Zeit im faschistischen Gefängnis seelisch zerstört. Solange sie lebte, mußte ich ihr beistehen, das Leid ihrer Vergangenheit zu bewältigen. Das überschattete meine Kindheit und Jugend. Mich aus der Wirklichkeit wegzuträumen, war mein Fluchtweg. Ich war kein Kind mehr, noch lange nicht erwachsen und dennoch gezwungen, Entscheidungen für mein Leben bereits selbst zu treffen. Eigentlich wollte ich Jura studieren. Doch als mir Mutter in Phasen von Kraftlosigkeit und Verzweiflung vorwarf, sie könne mich nicht länger ernähren, beschloß ich, mir in den Sommerferien eine Lehrstelle zu suchen. Nach der 10. Klasse verließ ich die Schule und begann eine Ausbildung als Zeichnerin beim Kartographischen Dienst Potsdam.