RotFuchs 235 – August 2017

Enttäuschte Hoffnungen oder doch
eine Perspektive für Afghanistan?
(Teil 2)

Dr. Matin Baraki

V. Die Talibanisierung (1994)

Das von der Weltöffentlichkeit lange Zeit vergessene und zu den „Waisenkindern“ der Weltpolitik degradierte Land Afghanistan wurde erst mit dem öffentlichen Auftau­chen der Taliban im September 1994, mit der Eroberung Kabuls am 27. September 1996 und mit ihrer fundamentalistischen, extrem frauen- und kulturfeindlichen Politik (die in der Zerstörung der Buddha-Statuen in Bamyan [Zentralafghanistan] Anfang März 2001 kulminierte), zum überragenden Thema der internationalen Medien.

Die Katastrophe vom 11. September 2001 in Washington und New York hätte zu einem Wendepunkt für Afghanistan werden können, wenn die internationale Gemeinschaft nicht nur die partikularen Interessen von bestimmten Mächten, sondern auch die der Afghanen berücksichtigt hätte.

Obwohl die Taliban erst im September 1994 öffentlich auftauchten, wurden sie nach Angaben von General Aslam Beg, dem ehemaligen Generalstabschef Pakistans, schon 1985/86 im Nordosten Afghanistans als Kampftruppe aufgestellt. Sie waren zunächst dort an den „Madrasah“, den religiösen Schulen, sowohl religiös-fundamen­talistisch als auch militärisch ausgebildet worden. Der französische Afghanistan­experte Olivier Roy beobachtete schon im Sommer 1984 die Aktivitäten an den Fronten der Taliban in den südlichen Regionen Afghanistans, Orusgan, Sabul und Qandahar. Dort „handelte (es) sich im Prinzip um die Umwandlung einer ländlichen Madrassa in eine militärische Front“. Rekrutiert wurden sie u. a. aus den Reihen der Waisenkinder Afghanistans in den Flüchtlingslagern in Pakistan. Unter unmittelba­rem Kommando der pakistanischen Armee und des Geheimdienstes ISI sind sie je nach Bedarf bei den verschiedenen Modjahedin-Gruppen eingesetzt worden. General Beg zufolge sind die Madrasahs „großzügig von den Regierungen Pakistans und Saudi-Arabiens und vielleicht der USA finanziert worden“.

Für die Entscheidung, die Taliban als selbständige militärische Formation in den afghanischen Bürgerkrieg einzusetzen, waren m. E. folgende Aspekte ausschlag­gebend:

1. Im Frühjahr 1994 wurden die Führer der in Afghanistan rivalisierenden Modjahedin vom Auswärtigen Ausschuß des US-Kongresses zu einem Gespräch nach Washington zitiert. Die Modjahedin schickten entweder zweitrangige Führungsmitglieder oder folgten dieser „Einladung“ erst gar nicht. Den anwesenden Modjahedin-Führern wurde ein Plan zur Durchführung eines Pipeline-Projekts von den weltweit drittgrößten Reserven an Öl und Gas in Mittelasien durch Afghanistan zum Indischen Ozean vor­gelegt. Darum hatten die größten westlichen Ölkonzerne seit 1990 einen „gnaden­losen Kampf“ geführt. Sie wurden aufgefordert, sich so bald wie möglich zu ver­ständigen, um die Verwirklichung des Projekts nicht zu verzögern. Die Vertreter der Modjahedin versprachen der US-Seite, den Afghanistan-Konflikt bald friedlich lösen zu wollen, ein Versprechen, das nie eingelöst wurde.

Die Taliban sind nichts anderes als das Produkt der ökonomischen Interessen der USA und ihrer regionalen Verbündeten. Das historische Versagen der Modjahedin war die Geburtsstunde der Taliban als eigenständige organisierte Kampfeinheit auf dem Kriegsschauplatz Afghanistan.

Scheinbar aus dem Nichts entstandene, gut organisierte militärische Einheiten, nun als Taliban bekannt, überfielen von Pakistan aus im September 1994 die afghanische Stadt Qandahar. Dies war der Beginn eines erneuten Versuchs einer militärischen Lösung des Afghanistan-Konfliktes, die von den USA und ihren regionalen Verbün­deten bevorzugt wurde. Die historische Mission der Taliban wurde darin gesehen, ganz Afghanistan zu besetzen, um die Bedingungen für die Realisierung der ökono­mischen, politischen und ideologischen Projekte der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens zu schaffen. Hinzu kam noch das spezifische geostrategische Interesse Pakistans am Nachbarland. „Am liebsten wäre uns eine Marionettenregierung in Kabul, die das ganze Land kontrolliert und gegenüber Pakistan freundlich eingestellt ist“, stellte ein pakistanischer Stratege fest.

2. Gulbuddin Hekmatyar, der von den USA und ihren Verbündeten im Afghanistan-Konflikt favorisierte Modjahed, fiel in Ungnade wegen seiner antiwestlichen Äuße­rungen und seiner Unterstützung des irakischen Diktators Saddam Husseins während des 2. Golfkriegs sowie wegen seiner kategorischen Weigerung, die noch in seinem Besitz befindlichen Stinger-Raketen, die er in großen Mengen von den USA erhalten hatte, an diese zurückzugeben. Er provozierte sogar einen direkten Affront gegen die USA, indem er sie teilweise an den Iran verkaufte.

3. Der mittelasiatische Markt wurde als nicht zu vernachlässigendes Exportfeld für pakistanische Produkte angesehen – der einzige Transitweg dahin aber führt über afghanisches Territorium. Nach einem Treffen mit Vertretern saudiarabischer und US-amerikanischer Ölgesellschaften forderte der damalige pakistanische Ministerprä­sident Nawaz Sharif die Taliban ultimativ auf, die Besetzung ganz Afghanistans bis Ende des Sommers 1997 abzuschließen. Es war längst kein Geheimnis mehr, daß an den Kampfeinsätzen der Taliban reguläre pakistanische Truppeneinheiten beteiligt waren, um der Aufforderung Nawaz Sharifs Nachdruck zu verleihen, denn „auf sich gestellt, könnten die Taliban nicht einmal ein Dorf erobern“.

4. Sowohl die USA als auch Saudi-Arabien wollten den ideologischen Einfluß ihres Rivalen Iran in Afghanistan eindämmen. Da sich die Modjahedin-Gruppen auch hier als unfähig erwiesen hatten, mußten die Taliban an ihre Stelle treten.

VI. US-Krieg am Hindukusch

Noch während des US-Kriegs gegen Afghanistan wurde auf dem Petersberg bei Bonn am 5. Dezember 2001 unter der Federführung der UN eine Regierung für Afghanistan gebildet. Vertreten waren Modjahedin-Führer, die sich aus dem langjährigen Bürger­krieg kannten. Es waren größtenteils die Kräfte versammelt, die 1992 bis 1996 an der Zerstörung Kabuls maßgeblich mitgewirkt hatten, wobei über 50 000 Zivilisten um­kamen. Der Usbekengeneral Abdul Raschid Dostum, der einzige säkulare Milizen­führer Afghanistans, war zu dieser Konferenz erst gar nicht eingeladen worden.

Unter den internationalen Beobachtern waren allein die Vereinigten Staaten mit 20 Personen vertreten. Diese überdimensionale Präsenz läßt auf eine nachdrückliche Beeinflussung von Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen schließen. Daher haben sich die USA mit der Ernennung Karseis zum Ministerpräsidenten durchgesetzt, ob­wohl dieser auf dem Petersberg gar nicht anwesend war, sondern sich auf einem US-Kriegsschiff im Indischen Ozean befand.

Die internationale Gemeinschaft unter US-Führung sprach von einer „Demokratisie­rung“ Afghanistans. An die Macht brachte sie jedoch Islamisten, Warlords und Kriegs­verbrecher. Das war nun das vierte Mal, daß die Hoffnungen der geschundenen afghanischen Bevölkerung auf einen dauerhaften Frieden und auf Demokratisierung enttäuscht wurden:

  1. nach dem Abzug der sowjetischen Militäreinheiten 1989,
  2. mit der Machtübernahme der Modjahedin 1992,
  3. mit dem Einmarsch der Taliban 1994 bis 1996,
  4. mit der Vertreibung der Taliban 2001.

Damit hat die internationale Gemeinschaft nicht nur eine weitere Chance vertan, Afghanistan auf dem Wege einer Demokratisierung zu helfen, sondern auch das Scheitern einer Konfliktlösung mit militärischen Mitteln dokumentiert.

VII. Versuche einer Integration der Taliban

Mit dem Krieg gegen Afghanistan hat die Bush-Administration die Vernichtung von Al-Qaida unter Osama Bin Laden und der Taliban als unmittelbares Ziel des Krieges erklärt. Als sie feststellen mußte, daß die Taliban nicht so einfach wie Al-Qaida zu zerschlagen, geschweige denn aus Afghanistan zu verbannen waren, haben die westlichen Strategen eine Differenzierung vorgenommen. Al-Qaida hätte eine inter­nationale Agenda, die Taliban jedoch eine nationale, hieß es jetzt. D. h., der Kampf der Taliban sei national ausgerichtet und damit nur gegen die westlichen Militärs in Afghanistan. Daher sollte versucht werden, sie in die kolonialähnlichen politischen Strukturen am Hindukusch zu integrieren. Um diese Strategie erfolgreich umzuset­zen, sollte zunächst der Druck auf die Taliban verstärkt werden, indem diese gespal­ten sowie einzelne Feldkommandanten physisch eliminiert werden. Die Regierungs­berater bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin befürworteten einen „ ‚Enthauptungsschlag‘ gegen die Führungen der afghanischen Aufstandsgruppen [Quetta-Shura, gemeint sind die Taliban, Haqqani-Netzwerk und Hezb-e Islami von Gulbuddin Hekmatyar], mit dem Ziel, die militante Opposition […] signifikant zu schwächen“. Das liest sich wie eine Anstiftung zum Mord, was nach StGB, § 26 Anstiftung verboten ist und unter Strafe steht: „Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechts­widrigen Tat bestimmt hat.“ Demnach wäre der Anstifter genau wie der Täter zu bestrafen.

Danach sollten den Taliban politische und militärische Forderungen gestellt werden, die sie zu erfüllen hätten. Dann entdeckten die westlichen Strategen die „gemäßigten Taliban“, die als Verhandlungspartner in Frage kämen. Im April 2007 hatte der dama­lige SPD-Chef Kurt Beck eine Friedenskonferenz für Afghanistan angeregt, an der alle am Hindukusch relevanten Gruppen, darunter auch die Taliban, beteiligt werden müßten. Daraus wurde jedoch zunächst nichts. Trotzdem wurden die Geheimge­spräche zwischen den Konfliktparteien mehrfach auch in Deutschland fortgeführt. Erst nach sechs Jahren eröffneten die Taliban am 18. Juni 2013 ihr Verbindungsbüro in Katars Hauptstadt Doha. Dort sollten die Islamisten, die USA und die afghanische Regierung Verhandlungen durchführen. Der Hintergrund für die Verhandlungsbereit­schaft der USA ist darin zu sehen, daß der Krieg für sie zu teuer geworden war. Nach offiziellen Angaben kostete der Krieg am Hindukusch in den Hochphasen jede Woche 1,5 Mrd. US-Dollar. Deswegen sollten bis Ende 2014 die über 135 000 US- und NATO-Kampftruppen aus Afghanistan abgezogen werden. Von den blühenden Landschaften und weiteren hehren Zielen, die 2001 vom Westen für Afghanistan ausgegeben worden waren (wie z. B. Demokratie, Menschenrechte, gute Regierungsführung), hatten sich die US-Besatzer und ihre Verbündeten längst verabschiedet. „Solange die Taliban künftig darauf verzichten, ihren Herrschaftsbereich zum Rückzugsraum für internationale Terroristen zu machen, dürfen sie dort schalten und walten, haben die USA signalisiert.“ Ihre Vertretung in Doha versahen die Taliban mit dem Banner „Islamisches Emirat Afghanistan“ und damit als Parallelregierung, was von der Kabuler Administration als Affront angesehen wurde. Die Taliban hatten bis dahin Gespräche mit ihr abgelehnt, weil sie Karsei nur als eine Marionette der US-Amerika­ner ansahen.

Am Ende der Verhandlungen sollten die Taliban an der Regierung beteiligt werden, dafür hätten sie jedoch die afghanische Verfassung von 2004 akzeptieren müssen. Die Taliban beriefen sich aber auf die Scharia. Daher war das Scheitern der Verhand­lungen in Doha wegen maximaler Forderungen beider Seiten programmiert.

Anfang 2016 wurde ein neuer Versuch unternommen, um den festgefahrenen Frie­densprozeß in und um Afghanistan wiederzubeleben. Am 11. Januar trafen sich Vertreter der afghanischen, pakistanischen, chinesischen und US-amerikanischen Regierungen in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad, um einen Friedensfahrplan für das Land am Hindukusch auszuarbeiten. Der außenpolitische Berater der pakista­nische Regierung, Sartaj Aziz, wies bei seiner Eröffnungsrede darauf hin, daß man den Taliban Anreize anbieten solle, damit sie keine Gewalt mehr anwendeten. „Wir sollten keine überzogenen Erwartungen haben“, schränkte er jedoch ein.

Nach jahrelangen Geheimverhandlungen ist es der Kabuler Administration gelungen, den Kriegsverbrecher und Führer der Islamischen Partei Afghanistans, Gulbuddin Hekmatyar, in die bestehenden Strukturen Afghanistan zu integrieren. Da seine Gruppe in den letzten Jahren militärisch keine Rolle mehr gespielt hat, ist das aber nur von psychologischer und propagandistischer Bedeutung.