RotFuchs 199 – August 2014

Ernst Toller: „Eine Jugend in Deutschland“

Marianne Walz

Der Dichter Ernst Toller war bereits berühmt, als er die radikale Parteinahme für die sozialistische Revolution wählte. Geboren 1893 in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie, hatte er prägende Schul- und Studienjahre hinter sich und als Frontsoldat den Krieg verabscheuen gelernt. Seine autobiographischen Aufzeichnungen „Eine Jugend in Deutschland“ sind ein erschütterndes Zeugnis über das erste Viertel des vorigen Jahrhunderts, als Europa dem Abgrund zutrieb, und eine Anklage gegen die imperialistischen Machthaber. An Ernst Toller, einem Führer der Münchener Räterepublik, übten sie grausame Rache.

Das Buch erschien 1933 zuerst in Amsterdam. Im Exil konnte Toller dem Zugriff der Nazis entgehen. Sechs Jahre später beendete er sein Leben von eigener Hand. Wer die ersten dreißig Lebensjahre des Schriftstellers aus dem von ihm selbst verfaßten Rückblick kennt, mag verstehen: Kein enttäuschtes Wegwerfen, kein resignativer Rückzug war dieser Freitod, sondern die stolze Entscheidung eines Aufrechten, der alle Kräfte verausgabt, alle Reserven erschöpft hatte. „Aber wenn das Schiff zerschellte und die Menschen auf Planken treiben, was helfen dann Wille und Tatkraft und Vernunft? Wo seid ihr, meine Kameraden in Deutschland? Ich sehe die Tausende, die den Verlust der Freiheit (…) lärmend feiern. Tausende (…) betrogen und getäuscht. (…) schrieb Toller in seinem „Blick 1933“ überschriebenen Vorwort „Am Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland.“ Verzweiflung über das Gelingen einer verbrecherischen Verführungskampagne widerspiegeln diese Zeilen. Der Feind zelebriert den Triumph, und die Menschen folgen willig. Die Aufrechten im heutigen Deutschland mögen Tollers ohnmächtigen Zorn nachempfinden, jedoch auch wissen, daß nach opferreichen Kämpfen dem Aufstieg der Faschisten im Jahre 1933 nur zwölf Jahre später deren schmählicher Zusammenbruch folgte.

Zurück bis zu den frühesten Erinnerungen der Kindheit im ostpreußischen Samotschin (heute Szamocin) reichen die Bilder, die der Erzähler farbenreich wiedergibt. Juden, protestantische Deutsche und katholische Polen befeinden sich untereinander in wechselnden Allianzen. Chauvinistische Feindseligkeiten erlebt Ernst Toller auch während der Studienzeit im französischen Grenoble zwischen deutschen und französischen Studierenden.

Als 1914 der Krieg vom Zaun gebrochen wird, zieht der patriotisch beseelte Toller freiwillig an die Front – und sieht dort fast täglich Szenen wie diese: „… einer der Unsern hängt im Drahtverhau, niemand kann ihn retten (…) irgendeiner Mutter Sohn wehrt sich verzweifelt gegen seinen Tod, (…) schreit. Der Tod stopft ihm den Mund am dritten Tag.“

Seelisch und körperlich krank, nimmt Toller nach der Lazarettbehandlung sein Studium wieder auf und setzt sich als frühzeitig gereifter Denker intensiv mit den geistigen Strömungen auseinander, die hier, in der Universitätsstadt München, hart aufeinander prallen. Toller trifft Literaten wie Thomas Mann, Frank Wedekind, Richard Dehmel und Reiner Maria Rilke sowie den charismatischen, bedeutenden Nationalökonomen Max Weber.

Leidenschaftlich und zunehmend parteilich verfolgt der zum Kriegsgegner Gewordene die Aktionen der Gruppe um Karl Liebknecht während der politischen Massenstreiks kriegsmüder Arbeiter im ganzen Land. „Ich ging in die Versammlungen Eisners, in denen Arbeiter, Frauen, junge Menschen nach dem Weg suchten, der Frieden bringt, das Volk rettet.“ Toller wird verhaftet und studiert im Gefängnis auch die Werke der sozialistischen Klassiker, erkennt „die geschichtsbildende Bedeutung der Arbeiterklasse“, übernimmt Aufgaben in der sozialistisch-revolutionären Bewegung. Sein Rede- und Organisationstalent, seine mitreißende Begeisterung führen ihn während der folgenden dramatischen Tage und Wochen in die Spitze der revolutionären Führung.

Gewaltsam und heimtückisch wird die Bayerische Räterepublik niedergeschlagen, werden Kurt Eisner in München, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin ermordet. Auf die überlebenden Revolutionäre beginnt eine gnadenlose Jagd. Ernst Toller entgeht nur knapp dem Lynchmord und wird in einem Hochverratsprozeß angeklagt. Dank namhafter Fürsprecher wie Max Weber und Thomas Mann sowie des Verteidigers Hugo Haase, nicht zuletzt wegen seiner Bekanntheit als Literat, kann das Todesurteil gegen Toller abgewendet werden. Er muß eine fünfjährige Haftstrafe antreten. Während die Deputierten im Weimarer Theater mit einer bürgerlich-republikanischen Verfassung niederkommen, in München „ein Mann namens Hitler“ deklassierte Kleinbürger und unzufriedene Beamte um sich schart und die Kopfgeburt der Demokratie unter Attentaten, Notverordnungen und Putschversuchen ins Koma fällt, protestiert Ernst Toller mit einem lebensgefährlichen Hungerstreik gegen die unmenschlichen Schikanen im Gefängnis. Ein ergreifendes Bekenntnis zum Leben und zur Humanität entsteht unter der Qual der Festungshaft: „Das Schwalbenbuch“. Toller beobachtet teilnehmend die Vögel in seiner Zelle, die durch die Fensteröffnung zu ihm hinein fliegen. „Halb sind die Nester geschichtet, doch die Wächter entdecken sie, und das Grausame geschieht. In sechs Zellen baut das Paar. Wer kann wissen, was sie treibt. Vielleicht Hoffnung, daß die Menschen ihnen ein Nest gewähren, aus Einsicht und ein wenig Güte.“

Der Gefangene wird 1924 aus der Festung Niederschönfeld entlassen und sofort nach Sachsen abgeschoben. Noch im Zug kurz hinter der Grenze erinnert sich der standhafte Revolutionär und Lyriker: „Ich stehe am nächtlichen Gitterfenster / Träumend zwitschert die Schwälbin / Ich bin nicht allein / Auch Mond und Sterne sind mir Gefährten / Und die schimmernden schweigenden Felder.“

Mit den Zeilen „Ich bin dreißig Jahre. / Mein Haar wird grau. / Ich bin nicht müde.“ endet des Dichters Rückblick auf „Eine Jugend in Deutschland“.