RotFuchs 189 – Oktober 2013

Gab es im DDR-Geschichtsbild
nur „Gute“ und „Böse“?

Dr. Wolfgang Reuter

Seit der Konterrevolution 1989/90 gehört die Geschichtsfälschung großen Stils zur politischen Strategie der zeitweiligen Sieger. Lügen, Halbwahrheiten und die persönliche Verleumdung von Führern der Arbeiterbewegung wie des sozialistischen deutschen Staates werden am Fließband produziert. Dazu gehören auch ein verstärkter „linker“ Geschichtsrevisionismus sowie die Leugnung unumstößlicher gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse. Teil dieser Strategie ist die systematische Diskreditierung von Lehre und Forschung in der Geschichtswissenschaft der DDR sowie die Kriminalisierung sämtlicher Gremien, die sich mit dem Widerstandskampf gegen den Faschismus und der Chronik der örtlichen Arbeiterbewegung zu DDR-Zeiten befaßt haben.

Wir leiteten unsere Traditionen aus dem historischen Erbe ab. Unser diesbezügliches Bild umfaßte die Gesamtheit der Ereignisse und Prozesse, der Siege und Niederlagen in der wechselvollen Geschichte des deutschen Volkes. Dabei stellten wir als Marxisten jene sozialen Kräfte wie deren Repräsentanten besonders heraus, die durch ihren revolutionären Kampf die Durchsetzung höher entwickelter Gesellschaftsordnungen erzwangen oder auf den Gebieten von Technik, Wissenschaft und Kultur das Leben der Menschen bereicherten.

Da wir uns stets der gesamten Geschichte in ihrer Vielseitigkeit, Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit, also dem Progressiven wie dem Reaktionären gleichermaßen, stellten, waren wir bemüht, sowohl die fortschrittliche als auch die reaktionäre Klassenlinie in der Chronik der Deutschen von Beginn an zu berücksichtigen. Daß wir uns damit nicht in Übereinstimmung mit dem Geschichtsbild der alten BRD befanden, versteht sich von selbst.

Auf diese Unterschiede wurde ich erneut nachdrücklich aufmerksam, als ich den Artikel Rolf Bertholds in der RF-Juli-Ausgabe zum Verhalten beider deutscher Staaten gegenüber Vietnam las.

Ihre wichtigsten historischen Überlieferungen schöpfte die sozialistische Gesellschaft aus den Kämpfen der werktätigen Massen, deren fortgeschrittenste Kräfte stets für die Schaffung einer ausbeutungsfreien, menschenwürdigen Gesellschaftsordnung eintraten. Doch dieses sozialistische Traditionsbild wäre unzulässigerweise eingeengt, hätten wir dabei das konträre Wirken jener Klassen außer acht gelassen, die in großen revolutionären Umbruchepochen an der Spitze des Kampfes für die Ablösung überlebter sozialer Systeme standen, auch wenn sie nach ihrem Sieg selbst zu Ausbeutern wurden.

Entscheidend für den sozialistischen Traditionsbegriff ist und bleibt das Fortschrittskriterium. In der DDR pflegten wir die Erinnerung an das Wirken all jener Menschen, welche auf die eine oder andere Weise zum Voranschreiten der Menschheit und zur Entwicklung der Weltkultur beitrugen – unabhängig von ihrer sozialen Position. Unser Traditionsbild war demnach vielgestaltig und sehr differenziert.

An erster Stelle standen für uns die dem Sozialismus eigenen Traditionen, die sich beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung herausgebildet hatten. In den 40 Jahren ihrer Existenz verfolgte die DDR einen unverwechselbaren Weg. Die Taten der antifaschistischen Helden, der Aktivisten der ersten Stunde, der Bahnbrecher der Bodenreform, der Neuerer in Industrie und Handel, der Pioniere der sozialistischen Umgestaltung in der Landwirtschaft und die engagierten Verfechter internationalistischer Solidarität prägten ihre Geschichte. Zweitens gewannen die Erbauer des Sozialismus ihre Kraft aus den Kämpfen der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung – vom Marxschen Bund der Kommunisten bis zur KPD Liebknechts, Luxemburgs und Thälmanns. Zum kostbarsten Erbe zählten sie das Kommunistische Manifest von 1848, die Pariser Kommune 1871, den Roten Oktober 1917, die wagemutige, wenn auch fehlgeschlagene deutsche Novemberrevolution 1918/19, das Programm des Gründungsparteitages der KPD, deren Aufruf vom 11. Juni 1945 sowie den Händedruck von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl im April 1946.

Profunder Antifaschismus prägte das Handeln der DDR von der ersten Stunde ihrer Existenz. So war es kein Zufall, daß vor 1989/90 unzählige Straßen und Plätze, Betriebe und Einheiten der bewaffneten Kräfte, Arbeitskollektive und Schulen die Namen deutscher und ausländischer Helden des Widerstandes gegen die Nazidiktatur trugen.

Da sich die sozialistische Gesellschaft auch als Hüterin des Vermächtnisses der Kämpfe und Bestrebungen aller nichtproletarischen werktätigen Klassen und Schichten in der feudalen wie der bürgerlichen Gesellschaft verstand, umschloß das Traditionsverständnis der DDR auch die Bauernerhebungen und Kämpfe des städtischen Bürgertums im Mittelalter. Dazu gehören die Reformation und der große deutsche Bauernkrieg von 1517 bis 1526, die Mainzer Republik (1793) und die bürgerliche Revolution von 1848.

Natürlich befaßten wir uns als Historiker auch mit den Aktivitäten der Ausbeuterklassen und ihrer Repräsentanten, soweit sie traditionswürdigen Charakter besaßen. Wir ließen uns also nicht davon abhalten, schöpferische Leistungen der Feudalklasse wie der Bourgeoisie bei der Errichtung und Ausgestaltung ihrer anfangs fortschrittlichen Gesellschaftsformationen anzuerkennen. Als jeweils führende Klassen erfüllten sie eine ihnen objektiv zufallende geschichtliche Rolle. Ich denke dabei an Martin Luther, die preußischen Reformer zwischen 1807 und 1813, aber auch an das Wirken mittelalterlicher Könige und Kaiser wie Heinrich I., Otto I. oder Heinrich IV. bei Aufbau und Konsolidierung der Feudalgesellschaft. Die auf ihren Befehl hin errichteten Burgen und Schlösser, die unter ihrer Herrschaft gegründeten Städte und Dörfer trieben den Landesausbau voran, indem wichtige ökonomische, politische und kulturelle Zentren entstanden, die den Fortschritt der Produktivkräfte und die Entwicklung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens beförderten.

Unser Autor war Vorsitzender der Zentralen Fachkommission Geschichte beim Ministerium für Volksbildung der DDR, welche die Institute für Lehrerbildung (IfL) betreute. 24 Jahre leitete er die Kreisgeschichtskommission (KGK) der SED in Staßfurt.