RotFuchs 202 – November 2014

Gegen Plattheiten über den Plattenbau

Hans Rehfeldt

Nach der Rückwende wird kaum ein DDR-Begriff – gleich nach der Lieblings-Diffamierungsvokabel „Stasi“ – so gehässig und abwertend in den tonangebenden Medien verwendet wie Plattenbau. „Die Platte“ wurde zum Inbegriff des angeblich menschenunwürdigen Daseins im DDR-Alltag hochstilisiert. Ähnlich wie der Palast der Republik, der unseren westlichen „Brüdern und Schwestern“ als „Palazzo Prozzo“ nahegebracht werden sollte, wurden die Plattenbauten als „Arbeiterschließfächer“ abgestempelt.

Das kommt übrigens bisweilen ganz subtil daher: Da vernachlässigt eine junge Frau ihre Kinder. Was schreiben anschließend die Zeitungen? Die Rabenmutter habe die Kleinen zwei Wochen lang „in einem Plattenbau“ – also nicht in einer Wohnung! – allein zurückgelassen. Was kann denn die Bauweise eines Hauses dafür! Kein Journalist käme je auf den Gedanken, seinen Lesern mitzuteilen, diese Frau habe ihre Kinder in einem „Ziegelsteinbau“ zurückgelassen.

Die „Platte“ muß mit allem Negativen behängt werden, was sich nur irgendwie anbietet. Politiker und Journalisten, die so daherreden oder schreiben, haben offensichtlich nicht die geringste Ahnung von dem, worüber sie schwadronieren.

Die industrielle Montagebauweise, von weitsichtigen Vordenkern des Dessauer Bauhauses und Architekten einer ihm vorausgegangenen Periode bereits im Ansatz erprobt, wurde in der DDR zu technischer Vollkommenheit weiterentwickelt. Sie ist eine wissenschaftlich-technische Leistung ersten Ranges, deren einziger Makel darin besteht, daß die Wohnblocks in Massen als gleichförmig erscheinende und daher leicht zu verwechselnde Baukörper nebeneinander aufgereiht wurden. Die Entwickler des industriellen Bauens wollten das so nicht und gingen davon aus, daß mit vorgefertigten typisierten Bauelementen durchaus Abwechslungsreiches geschaffen werden kann. Aber das wurde ihnen unter Überbetonung ökonomischer Ziele, Zwänge und Kennziffern nicht gestattet, weil es dann keine solchen Rekorde bei Bauzeiten und Kostenminimalisierung gegeben hätte. 1987 wurden für eine moderne 58-qm-Plattenbauwohnung mit Zentralheizung und Warmwasserversorgung nur 561 Arbeitsstunden – davon 286 in der Vorfertigungsphase – bis zur Übergabe gebraucht. Die Miete betrug je Quadratmeter Wohnfläche 0,80 bis 1,25 Mark der DDR. Heute wären das 0,20–0,32 Euro.

Für den Bau einer freistehenden Eigenheimwohnung oder für eine solche in Wohnanlagen werden in der Regel etliche Monate, manchmal sogar Jahre gebraucht. Kann man auf diese Weise die Wohnungsnot Hunderttausender oder von Millionen Menschen – allein aus technischer Sicht – lindern oder beheben?

Niemand käme heute auf den Gedanken, die Autoindustrie dafür zu tadeln, daß ihre Produkte im Takt- und Fließverfahren aus vorgefertigten Baugruppen weitgehend von Robotern zusammengefügt werden. Keiner wertet diese als „Plattenblech-Autos“, nur weil sie nicht mehr wie zu Zeiten des alten Benz handwerklich zusammengeschraubt werden.

Bei Häusern scheint das aber so zu sein. Die kapitalistische Gesellschaft ist vor allem an individuell gestalteten Anlagen mit Eigentumswohnungen und am privaten Häuslebau interessiert. Nur das „rechnet sich“. Banken fahren mit Krediten für jene, welche hinreichend bei Kasse sind, satte Gewinne ein, ebenso Versicherungen, Bausparkassen, Makler, Notare und viele andere. Profitable Kapitalanlage ist der einzige Maßstab.

In den östlichen Randgemeinden Berlins kann man sehen, wohin eine solche Wohnungspolitik führt. Jede sich bietende Lücke wird zugebaut. Der Preis dafür: Tag für Tag wird die Natur ein Stück mehr zerstört. Gewachsene Landschaften zersiedelt man. Dem folgt dann die Zubetonierung weiterer Flächen auf dem Fuße, weil die Häusle-Bewohner Straßen, Parkplätze, Einkaufszentren und vieles mehr benötigen. Gleichzeitig veröden ganze Viertel ostdeutscher Großstädte, weil es für Hunderttausende einst in Lohn und Brot stehende DDR-Bürger nach Abwicklung der Industrie im Osten keine Arbeit mehr gibt. Sie müssen sie nun anderswo suchen.

An Leipziger Ausfallstraßen gibt es seit geraumer Zeit leerstehende Häuserzeilen, die in den Gründerjahren errichtet wurden. Diese erfahren allerdings keine derart gehässige Herabwürdigung, wie die inzwischen oftmals unbewohnten Plattenbauten, die bereits massenhaft abgerissen worden sind. Sie fallen auch nicht wie diese dem „Stadtumbau“ zum Opfer.

Unser Autor war ND-Redakteur für Fragen des Bauwesens.