RotFuchs 224 – September 2016

Generalangriff auf türkische
und kurdische Linke in der BRD

Henning v. Stoltzenberg

Im Durchschnitt vergeht inzwischen kaum ein Monat, ohne daß auf Geheiß des Bundesjustizministeriums eine Aktivistin oder ein Aktivist der linken Exilopposition festgenommen und abgeurteilt wird. Vorgeworfen wird ihnen stets, Mitglieder in kriminalisierten Organisationen zu sein und für diese Demonstrationen organisiert, Seminare abgehalten oder Gelder gesammelt zu haben, was hierzulande als „Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung“ (§ 129b StGB) verfolgt wird.

So befinden sich derzeit neun kurdische Politiker in deutschen Gefängnissen, denen die Tätigkeit in der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) vorgeworfen wird. So viele Inhaftierte der kurdischen Bewegung hat es seit vielen Jahren nicht gegeben. Ihnen allen drohen aller Wahrscheinlichkeit nach mehrjährige Haftstrafen.

Solidaritätsdemonstration mit Kurden

Solidaritätsdemonstration mit Kurden, Aachen 27. Februar 2016 / Foto: r-mediabase.eu

Ebenfalls inhaftiert sind zehn Genossinnen und Genossen, denen die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML) vorgeworfen wird. Sie waren am 15. April vergangenen Jahres in einer europaweiten Polizeioperation festgenommen worden und befinden sich seitdem in Untersuchungs­haft. Alle Angeklagten leben bereits seit zehn Jahren in Europa, und die Mehrheit sind anerkannte politische Flüchtlinge, die bereits in der Türkei inhaftiert und teils gefoltert worden waren. Obwohl die TKP/ML außerhalb der Türkei in keinem Land verboten ist und sich nicht auf den „Terrorlisten“ der USA und der EU befindet, wird ihnen seit dem 17. Juni 2016 vor dem Oberlandesgericht in München der Prozeß gemacht.

Sie sollen gegen das türkische Regime und für eine sozialistische Gesellschafts­ordnung gekämpft haben. Erschwerend kommt aus der Sicht der Bundesanwaltschaft (BAW) wohl hinzu, daß die TKP/ML im Verbund mit der PKK steht. Darüber hinaus ist bekannt, daß sich Mitglieder der maoistisch orientierten Partei am Kampf gegen den „Islamischen Staat“ im syrisch-kurdischen Rojava beteiligen. Für letzteres erhalten prowestliche kurdische Peschmergas aus dem Nordirak im übrigen militärische Unterstützung der Bundesregierung.

Weder das Polizeiaufgebot noch die scharfen willkürlichen Kontrollen mit Leibesvisitationen und dem Kopieren des Personalausweises konnten verhindern, daß der Gerichtssaal am 17. Juni zur politischen Bühne wurde und durchgängig mit linken Aktivisten besetzt war. Die Angeklagten wurden mit minutenlangem Applaus und Parolen für deren Freilassung und gegen das türkische Regime begrüßt. Diese hatten sich erfolgreich gegen das Vorführen in Ketten gewehrt. Auf Druck der Verteidigung sagte der Senat schließlich zu, für ein sofortiges Ende der Repressalien zu sorgen.

Während des laufenden Prozesses wurden aufgrund der Haftbedingungen, der verspäteten Übergabe von Gerichtsunterlagen an die Angeklagten und der erschwerten Kontaktaufnahme mit ihrer Verteidigung Befangenheitsanträge durch den Hauptangeklagten Müslüm Elma und den erst im März aus der Schweiz ausgelieferten Mehmet Yeşilçalı gegen den Vorsitzenden Richter Dauster gestellt.

Vor dem OLG fand während des gesamten Prozeßtages eine Kundgebung mit über 500 Teilnehmenden statt, die von der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei (ATIK), der die Angeklagten angehören, und zahlreichen weiteren linken Organisationen ausgerichtet wurde.

Eine solidarische Delegation von Rechtsanwälten, Abgeordneten der linken, pro-kurdischen Partei der Völker (HDP) und NGO-Mitgliedern aus der Türkei sorgte für internationale Öffentlichkeit.

Diese Öffentlichkeit ist dringend geboten, denn es scheint, als solle in diesem wie auch in den Prozessen gegen die kurdischen Exilpolitiker sang- und klanglos zu immer höheren Haftstrafen verurteilt werden, um letztlich alle verschiedenen linken Gruppen aus der Türkei zum Schweigen zu bringen. Selbst bürgerliche Zeitungen wie die „Süddeutsche Zeitung“ bezeichnen diesen Prozeß richtigerweise als „Auftragsarbeit für Erdoğan“ (SZ, 17. Juni 2016). Während die systematischen Menschenrechtsverletzungen, Tötungen von Zivilisten und das Zerstören ganzer Städte der Bundesregierung ebensowenig eine ernsthafte Kritik wert ist wie die Aufhebung der Immunität gewählter Abgeordneter der HDP, wird keine Gelegenheit ausgelassen, um dem autoritären und militaristischen Regime Schützenhilfe zu leisten.

Hiergegen kann nur ein gemeinsames Handeln aller Linken sowie der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung erfolgreich sein. Vor Gericht stehen neben den Angeklagten nicht weniger als das Recht auf freie Organisierung linker Migrantenverbände sowie das Recht auf Widerstand gegen diktatorische Zustände wie in der Türkei.

Der Prozeß wird noch mehre Monate andauern, und die Angeklagten freuen sich sicher über Briefe und Prozeßbeobachtung.

Der Autor ist Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe e. V.

Weitere Informationen zum Prozeß

Blog der Verteidigung:
www.tkpml-prozess-129b.de/de

Azadi e.V. – Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland:
www.nadir.org/nadir/initiativ/azadi

Aus der Erklärung von Müslüm Elma, Hauptangeklagter
im Münchner TKP/ML-Prozeß, am 17. Juni 2016

[…] All das erweckt bei uns den Eindruck, daß der Vorwurf des „Terrorismus“ für alles ausreicht und auch Ihre Haltung zu mir bestimmt. Der Begriff des „Terrorismus“ paßt auch gut in das imperialistische Recht; er ist für die Imperialisten und ihre Justiz das „Allheilmittel“, das gegen die gerechten und legitimen Kämpfe eingesetzt wird.

Wer ist schuldig? Wir nicht! Wer ist im Recht? Das wird die Zeit zeigen. Wir glauben an die Geduld und an die Gerechtigkeit der Geschichte. […]

Als würden in der Türkei die Rosen der Demokratie und Freiheit blühen und wir würden hier vor Gericht stehen, weil wir sie abgeholzt hätten. Als würden die Kurden nicht seit Generationen verfolgt. Als sei die kurdische Region nicht in ein Blutbad verwandelt worden und würde nicht in Flammen stehen. Als gäbe es keine brutale Unterdrückung der Meinungs- und Gewissensfreiheit. Als würde Erdoğan in seinem Palast und seine Bande ihrer rassistischen Ideologie „Ein Staat, eine Nation, eine Fahne, eine Sprache“ nicht auch noch „nur eine Stimme“ hinzufügen wollen und als würde sie die Mehrstimmigkeit nicht als „Terrorismus“ ansehen.

Zusammengefaßt kann gesagt werden, daß die Bundesanwaltschaft sich mit einigen Folgen beschäftigt hat, aber sich überhaupt nicht für ihre Ursachen interessiert hat. Denn das Drehbuch, das uns hier auf die Bänke zwingt, ist ein gemeinsames Produkt des deutschen und des türkischen Staates.

Auf ein faires Verfahren kann ich nach Ihrer Entscheidung nicht mehr hoffen. Über uns schwebt das „Demokratie“-Schwert des heutigen Europas. Dieses Schwert erinnert uns an das Schwert der Osmanen. Ohne Zweifel werden wir unsere Hälse nicht vor diesem Schwert neigen. Wir können Schmerz ertragen. Wir können auch unser Leben lassen. Aber uns zu beugen steht nicht zur Diskussion.