RotFuchs 235 – August 2017

Verteidigung der Menschenrechte
gegen die kapitalistische Zerstörung

Generalangriff der Herrschenden

Sevim Dagdelen

Ich möchte heute über die sozialen Menschenrechte sprechen, die oft völlig aus dem Blick geraten. Dabei gehört der Angriff der Herrschenden auf die sozialen Menschen­rechte geradezu zum Alltag im Kapitalismus. Mit den Hartz-Reformen, die auf die Entrechtung der Beschäftigten und Erwerbslosen zielten, hat in Deutschland eine neue Epoche der Angriffe auf die sozialen Menschenrechte begonnen. Die vielfach aufgestellte Behauptung, der Neoliberalismus, der sich durch Menschenrechtsver­letzungen in großem Maßstab auszeichnet, komme an sein Ende, blamiert sich angesichts des Wahlsiegs von Emmanuel Macron bei den französischen Präsident­schaftswahlen und der neuen Privatisierungseuphorie in Europa, die allerdings zwei völlig verschiedene Gesichter trägt. Da ist zum einen die griechische Regierung, die in Erfüllung des Memorandums eine Privatisierung nach der anderen auf die Schie­nen setzt, während Lohn- und Rentenkürzungen zu weiterer Verelendung führen. Vom Ausverkauf profitieren vor allem deutsche Konzerne und Investmentfonds, wie vor wenigen Wochen bei der an Kolonialstil erinnernden Verpachtung des Hafens von Thessaloniki einmal mehr deutlich wurde. Auf der anderen Seite werden auch im Herzen der EU, in der Bundesrepublik, der Privatisierung ständig neue Bereiche der Daseinsvorsorge aufgeschlossen, wie jüngst etwa Schulen und Autobahnen. Ich komme noch ausführlich darauf zu sprechen. Fakt ist: Wir stehen in Europa vor einer neuen Welle der Veräußerung von öffentlichem Eigentum. Privatisierungen sind nichts anderes als organisierte Menschenrechtsverletzungen, die von den Main­streammedien als solche aber nicht benannt werden. Menschenrechte und deren Verletzung erscheinen nur im Hinblick auf nicht verbündete Länder von Belang oder werden strikt auf das Gebiet der Freiheitsrechte begrenzt.

Sevim Dagdelen während einer Rede im Bundestag / Foto: M. Kappeler

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 aber hatte, wenn auch nicht völkerrechtlich verbindlich, einen neuen Standard gesetzt. Zum einen hinsichtlich ihrer universellen Gültigkeit: Alle Versuche, hier einen eigenen religions- oder kultur­relativistischen Standard zu setzen, wie etwa in der „Erklärung der Menschenrechte im Islam“, die 1990 von den Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz verabschiedet wurde und die die Gleichheit von Mann und Frau nicht verzeichnet, konnten sich bisher nicht durchsetzen. Zum anderen aber auch wegen der Aufnahme der sozialen Menschenrechte. Als Lehre aus den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und den sozialen Verwerfungen im Zentrum des Kapitalismus, aber auch unter Druck der Sowjetunion waren den mit der Französischen Revolution 1789 deklarierten Menschen- und Bürgerrechten die sozialen zur Seite gestellt. Es sind die Rechte für die vielen, nicht für die wenigen. Für Milliardäre und Multimillio­näre braucht es natürlich kein Recht auf Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Bildung oder Ernährung. Die Privatisierung ist für die wenigen allenfalls ein Grund, mit den Schul­tern zu zucken. Für die vielen können die Privatisierungen hingegen eine lebensbe­drohliche Verletzung von Menschenrechten sein. Man muß es klar aussprechen: Wer für die Privatisierung der Daseinsvorsorge stimmt, der stimmt für Menschenrechts­verletzungen und einen Angriff auf die vielen.

Kodifiziertes Klassenkräfteverhältnis

Die Aufnahme der sozialen Menschenrechte in die Allgemeine Erklärung von 1948 verdankt sich der Oktoberrevolution. In der Linken in Europa und dann auch darüber hinaus hatte sich die Idee durchgesetzt, daß die soziale Revolution mit dem Ziel der Emanzipation der Arbeiterklasse nur mit einer politischen Revolution zu erreichen ist. Wenn also die Allgemeine Erklärung, um mit Wolfgang Abendroth zu sprechen, die Kodifizierung eines Klassenkräfteverhältnisses im Weltmaßstab ist, so verwundert nicht, daß seit dem Ende der Sowjetunion und des realsozialistischen Blocks die Attacken wieder zunehmen. Die heutige Intensivierung der neoliberalen Angriffe ist zudem bedingt durch die Schwäche der Sozialdemokratie in den Ländern der Euro­päischen Union, die bisweilen bis hin zu deren Auflösung reicht. Es scheint, daß die Bundesrepublik hier im Vergleich etwa zu Italien, Griechenland und Frankreich ein Nachzügler ist. Allenfalls in Konturen ist bisher eine Kraft erkennbar, die gegen neo­liberale und neokonservative Zumutungen für die sozialen Menschenrechte kämpft.

Ich will hier auf einige der schwersten Angriffe konkret eingehen; auch deshalb, weil in dieser Frage bis in die Linke hinein oft ganz andere Prioritäten gesetzt werden oder bestimmte politische Orientierungen erkenntnisverstellend wirken. Als Beispiel sei nur das Werben kleiner, radikal linker Gruppierungen für „Rot-Grün“ im Bundes­tagswahljahr 1998 zu nennen. Der neoliberale Angriff nach der Regierungsübernahme von Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) stellte dann den Sozial­abbau der Kohl-Ära weit in den Schatten.

Den Folgen der neoliberalen Angriffe lassen sich einige Artikel der Allgemeinen Er­klä­rung der Menschenrechte gegenüberstellen. Es geht also dabei nicht um die Abwehr staatlichen Handelns, sondern um Rechte, die durch staatliches Handeln erst reali­siert werden müßten.

So heißt es in Artikel 22: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit.“ Gerade die aber ist in immer stärkerem Maße gefährdet. In der frühen Bundesrepublik war das Versprechen einer kollektiven Emanzipation der Arbeiterklasse in der „sozialen Marktwirtschaft“ von zwei anderen abgelöst worden. Sozialer Aufstieg sollte erstens individuell gewährleistet durch Leistung und Bildung und zweitens mittels besserer Bildung der eignen Kinder zumindest über Generatio­nen hinweg verwirklicht werden können. Beides jedoch, so der Befund des Jahresgut­achtens des Paritätischen Wohlfahrtverbandes 2017 mit dem programmatischen Titel „Abschied vom Aufstieg!?“, funktioniert heute nicht mehr. Das Aufstiegsversprechen der „sozialen Marktwirtschaft“, sprich: des bundesdeutschen Kapitalismus der 50er und 60er Jahre, blamiert sich spätestens heute angesichts einer „ständischen Verfes­tigung sozialer Ungleichheit“, wie es der Soziologe Sighard Neckel ausdrückte. Leistung lohnt nicht mehr, statt dessen herrschen Angst und Unsicherheit. „Neue Oligarchien als Vorboten einer Refeudalisierung“, so Neckel, prägen das gesellschaft­liche Bild. Wachsende soziale Verwundbarkeit konstatiert das Jahresgutachten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes „nicht nur in einzelnen, vorübergehenden Lebens­lagen“, sondern „in allen Lebenslagen“. Armutsrisiken werden sozialstaatlich nicht mehr abgesichert. Das Recht auf soziale Sicherheit, das konstitutiv für einen funktio­nierenden Sozialstaat war, wird zur Makulatur, zum bloßen Lippenbekenntnis gesell­schaftlicher Eliten, die alles daransetzen, soziale Sicherungssysteme zu privatisieren und deren Schutzfunktion immer weiter einzuschränken.

Zentral bei alledem sind die Attacken gegen das Arbeitsrecht, wie sich derzeit in Frankreich beobachten läßt. In Artikel 23 heißt es: „Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.“ Auf dem Arbeitsmarkt hat der Neoliberalismus in den vergangenen 15 Jahren wohl die größten Verheerungen angerichtet. Aus dem Recht auf Arbeit ist die Pflicht geworden, jede Arbeit anzunehmen, da ein wirksamer Schutz vor Dequalifizierung mit Hilfe einer funktionierenden Erwerbslosenversicherung fehlt. Nicht allein, weil die reale Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik mit 3,67 Millionen Menschen fast eine Million über den offiziellen Zahlen liegt und damit weiterhin ein Massenphänomen ist, sondern weil durch die Ausweitung sogenannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse ein wirklicher Schutz gegen die Erwerbslosigkeit in Form funktionierender Versicherungen immer weniger gewährleistet ist. Ein immer geringe­rer Teil der Menschen ohne Beschäftigungsverhältnis bezieht noch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Immer mehr Menschen sind auf das kümmerliche ALG II angewiesen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband spricht in seinem Jahresgut­achten davon, dass sich die Quote derer, die von Hartz IV leben müssen, von 67 Pro­zent im Jahre 2013 auf mittlerweile 69,5 Prozent erhöht hat. Das Recht auf Arbeit, verbunden mit der Maßgabe, davon auch leben zu können, gerät jedenfalls in Deutschland immer stärker unter Druck. Mit einem Niedriglohnsektor, der annähernd 25 Prozent der Gesamtbeschäftigung ausmacht, nimmt Deutschland unter den west­lichen Industrienationen neben den USA einen Spitzenplatz ein.

Wie verkommen das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie und der Grünen in dieser Frage mittlerweile ist, zeigte sich am 23. Juni im Bundestag. Der Antrag der Fraktion Die Linke, sachgrundlose Befristungen von Arbeitsverträgen verbieten zu lassen, lehnte die SPD ab, die Grünen enthielten sich der Stimme. So wird das Normalarbeitsverhältnis immer weiter zurückgedrängt, was verheerende Folgen für die Planbarkeit des Familienlebens hat und soziale Ängste erst entfesselt. SPD und Grüne entschieden sich auch hier für die wenigen und nicht für die vielen.

Mehr Streß, weniger Freizeit

In Artikel 24 wird das Recht eines jeden „auf Erholung und Freizeit“ festgeschrieben. Doch durch Arbeitsstreß und Arbeitsverdichtung sowie Niedriglöhne wird dieses Recht permanent unterlaufen. Heutzutage kann sich ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland keinen Urlaub außerhalb der eigenen vier Wände von mehr als einer Woche leisten. Bei Alleinerziehenden sind es sogar fast 50 Prozent, für die eine Reise nicht erschwinglich ist. Zugleich nimmt der Streß am Arbeitsplatz ungeheuer zu. Eine Bertelsmann-Studie berichtet, daß 23 Prozent der Beschäftigten keine Pausen machen. Jeder achte kommt sogar krank zur Arbeit. Sechs Prozent nehmen Medika­mente zur Leistungssteigerung. Der Arbeitszeitreport 2016 spricht davon, daß Beschäftigte in der Regel fünf Stunden länger pro Woche arbeiten als vertraglich vereinbart, nämlich 43,5 Stunden. 43 Prozent arbeiten mindestens an einem Wochen­ende im Monat. 22 Prozent berichten, daß ihr Arbeitsumfeld verlangt, auch privat für dienstliche Angelegenheiten erreichbar zu sein.

In Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung und notwendiger sozialer Leistungen.“ Wachsende Armut prägt allerdings das gesell­schaftliche Leben in Deutschland immer stärker. Die Privatisierung der Daseinsvor­sorge untergräbt anhaltend dieses Recht. Tendenziell stehen immer mehr Menschen immer weniger Mittel zur Verfügung. (…)

Wir können den Kapitalismus unserer Zeit nur als einen Generalangriff auf die sozia­len Menschenrechte begreifen. Einen Generalangriff, der unseren Widerstand heraus­fordert.

Die herrschende Klasse reagiert auf diesen Anstieg der Verletzung sozialer Men­schenrechte auf zweierlei Weise. Zum einen wird das öffentliche Schweigen immer dröhnender, gleichzeitig werden wie bei den Autobahnen immer mehr Bereiche für Privatisierungen aufgeschlossen, um die Profitmöglichkeiten von Finanzkonzernen wie etwa die Allianz auszuweiten. In unterschiedlichen Konstellationen wird dabei wachsender Druck auf die politischen Akteure ausgeübt, den Weg für neue profitable Anlagemöglichkeiten der Finanzindustrie frei zu machen. Wir erinnern uns, im Bundestag stimmten SPD und Union dafür. Im Bundesrat stimmten alle 16 Länder dafür, darunter auch die drei Länder, in denen die Partei Die Linke mitregiert, wie Thüringen unter Ministerpräsident Bodo Ramelow. Allein Die Linke im Bundestag stimmte geschlossen gegen dieses gigantische Privatisierungsvorhaben.

Heuchlerische Außenpolitik

Zum anderen aber scheint die Verletzung der sozialen Menschenrechte in Deutsch­land in einem engen Zusammenhang mit einer immer häufiger zu beobachtenden außenpolitischen Instrumentalisierung der Menschenrechte zu geopolitischen Zwecken zu stehen. Dies geschieht, obwohl wir uns einer immer skrupelloseren deutschen Außenpolitik gegenübersehen, die kein Problem damit hat, die islamis­tische Kopf-ab-Diktatur in Saudi-Arabien mit Waffen zu beliefern oder sogar deren Sicherheitskräfte ausbilden zu wollen. All das in dem Wissen, daß der saudische König Salman ibn Abduasis einen brutalen Krieg gegen den Jemen führt, bei dem bisher schon Tausende Zivilisten von saudischen Bomben getötet wurden und in dessen Folge durch die Blockade jemenitischer Häfen mehr als zehn Millionen Menschen hungern und sofortiger Hilfe bedürfen. Fast eine halbe Million Kinder leidet unter schwerer akuter Mangelernähung und ist damit unmittelbar vom Tod bedroht. Mittlerweile sind fast 300 000 Menschen an Cholera erkrankt, und die Zahl steigt weiter dramatisch. Verantwortlich sind auch dafür in erster Linie die islamis­tische Diktatur in Saudi-Arabien und diejenigen, die dieses mörderische Regime unterstützen.

Die heuchlerische Klage deutscher Außenpolitik über die Verletzung von Menschen­rechten in anderen Ländern ist nichts anderes als Mittel ihrer imperialen Politik, die den wenigen, nicht den vielen nutzt.

Dabei ist beeindruckend, wie auch offenkundige Widersprüche die Handelsreisenden in Sachen Menschenrechten nicht davon abbringen können, diese offensiv und plump als Instrument ihrer Interessen einzusetzen. Nehmen wir einmal Syrien. Dort unter­stützt die Bundesregierung weiterhin Gruppen, die sich gegen die Allgemeine Erklä­rung der Menschenrechte stellten und offen für die Errichtung einer Scharia-Diktatur eintreten. Zur Türkei bzw. zum Moslembruder Recep Tayyip Erdoğan, der Zehntausen­de Menschen hat inhaftieren lassen, unterhält man noch immer gute Beziehungen. Mit Waffen und Geld wird der Staatschef in seinem Krieg gegen die Kurden weiter unterstützt.

Im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts wird ein erbitterter Krieg gegen die sozialen Menschenrechte geführt. Es gehört zu diesem Krieg, sich der Menschenrechte insge­samt nach außen hin propagandistisch zu bedienen. Es wird darauf ankommen, wie wir in einer Volksfront den Widerstand gegen die Verletzung der sozialen Menschen­rechte in Zukunft besser organisieren. Und es wird auch darauf ankommen, wie die parteipolitisch organisierte Linke ihre selbstgestellte Aufgabe als anti-neoliberale Widerstandsbewegung stärker mit Leben erfüllt: in Verteidigung der Menschenrechte gegen die kapitalistische Zerstörung der Gesellschaft.

Rede anläßlich der Auszeichnung mit dem BüSGM-Menschenrechtspreis
am 25. Juni 2017; redaktionell gekürzt

Sevim Dagdelen ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags. Sie ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß und Sprecherin der Fraktion Die Linke für internationale Beziehungen sowie Beauftragte für Migration und Integration.

Zuletzt veröffentlichten wir im Januar-„RotFuchs“ ihren Beitrag „Erdoğans Rocker und Merkels Kumpanei“.