RotFuchs 234 – Juli 2017

Geschichtsfälschung mit Methode

Herbert Kierstein

Die Übergabe des 13. Tätigkeitsberichtes der BStU an den deutschen Bundestag im Frühjahr dieses Jahres veranlaßt mich, diesen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Auffallend ist, daß in der DDR geführte Ermittlungsverfahren gegen west­liche Spione im Bericht wie schon in den Jahren davor überhaupt keine Rolle spielen.

Als ehemaliger Untersuchungsführer des Ministeriums für Staatssicherheit, der im Verlaufe von 30 Dienstjahren in Hunderte von Ermittlungsverfahren gegen Agenten westlicher Geheimdienste oder von diesen gesteuerter Organisationen involviert war, frage ich: Warum ist das so? Immerhin wäre es ein leichtes, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, wenn man es denn wollte.

Für alle auf unserem Staatsgebiet eingesetzten Spione existierten seit der Grenz­schließung 1961 in Berlin nachrichtendienstliche Systeme zur unpersönlichen Aufrechterhaltung der Verbindung wie z. B. tote Briefkästen, Deckadressen, Code-Materialien zur Ver- und Entschlüsselung von Nachrichten und Informationen, Geheimschreibmittel, einseitige Rundspruchdienste der Geheimdienste und in speziellen Fällen Funkgeräte im Besitz der Agenten. In unterschiedlichem Umfang gelangten Instruktionen und Aufträge der Geheimdienste über geeignete Wege zu den Spionen.

Bei solchen Systemen ist das Risiko ihrer Entdeckung durch die Spionageabwehr wesentlich höher.

Es waren insbesondere Code-Materialien, Geheimschreibmittel und schriftliche Instruktionen, deren Aufbewahrungsorte das MfS bereits vor der Festnahme durch operative Maßnahmen aufklären konnte, so daß deren Sicherstellung als Beweis­mittel unmittelbar im Zusammenhang mit der Festnahme möglich war. Hinzu kam, daß es Spezialisten des MfS gelang, geheimschriftliche Texte der Agenten auf dem Postweg zu kopieren und sichtbar zu machen. Die Rundspruchdienste der Geheim­dienste wurden von einer dafür zuständigen Diensteinheit permanent aufgezeichnet, weshalb nach Sicherstellung der Code-Materialien Chancen gegeben waren, übermit­telte Aufträge und Instruktionen zu entschlüsseln.

Verständlich, daß sich dadurch die Auswahlmöglichkeiten der Beschuldigten zur Gestaltung ihres Aussageverhaltens erheblich einschränkten. Die Erkenntnis, daß die Arbeitsmethoden ihrer Auftraggeber sie in ausweglose Situationen gebracht hatte, war ein weiterer Faktor für die Förderung ihrer Gesprächsbereitschaft gegenüber dem Untersuchungs-organ des MfS.

Dies und noch viel mehr ließe sich bei sachlicher Aufarbeitung der umfangreichen Archiv-materialien des MfS feststellen und belegen. Es handelt sich um Tausende von Ermittlungsverfahren.

Wer Aussagen über weitreichende Details und Zusammenhänge bis hin zur operativ verwertbaren Charakterisierung von Geheimdienstmitarbeitern, welche das MfS durch operative Methoden niemals hätte aufklären können, lesen würde, käme zu der Erkenntnis, daß Unterstellungen über psychische Folter und dergleichen abwegig sind.

In gleichem Maße ist der Umfang und Inhalt an persönlichen Niederschriften erstaun­lich, den Beschuldigte, überwiegend in ihrem Haftraum, angefertigt haben. Die darin enthaltenen Informationen gehen weit über strafrechtliche Aspekte hinaus und bereicherten das Wissen operativer Diensteinheiten des MfS. Sie waren gleichzeitig Beleg für eine aktive Mitwirkung der Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, auf die sie sich auch vor Gericht berufen konnten.

Die als schriftliche Beweismittel existierenden Aufträge und Instruktionen der west­lichen Geheimdienste gestatten im Zusammenhang mit den protokollierten Aussagen und persönlichen Niederschriften eine thematische Gliederung der Angriffe gegen die DDR und ihre gesellschaftliche Ordnung.

Sie umfaßten Schädlingstätigkeit und Sabotage gegen die Volkswirtschaft der DDR mit bezifferbaren Folgeschäden, Piraterie auf offener See zur Störung und Unterbin­dung der Handelsbeziehungen der DDR, An- und Abwerbung von Spezialisten und Wissenschaftlern mit dem Ziel, ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten für westliche Konzerne zu erschließen, die Installierung von Funkmeldeköpfen für den Kriegsfall auf dem Territorium der DDR, intensive Sammlung von Informationen über die gesell­schaftliche Situation innerhalb der DDR, womit ausnahmslos jeder Spion beauftragt war, um Grundlagen für aktuelle Propagandakonzepte der Medien, staatstragender Parteien und politischer Organisationen zu gewährleisten sowie eine systematische Aufklärung der Standorte, Mannschaftsstärke und Ausrüstung militärischer Einheiten auf dem Territorium der DDR und angrenzender Bruderstaaten.

Logisch, daß sich aus diesen permanent feindlichen Aktivitäten Einflüsse auf die Entwicklung der Strafgesetzgebung, der Aufgabenstellung für die Sicherheitsorgane und das gesellschaftliche Leben in der DDR insgesamt ergaben und von den Initia­toren der Angriffe auch gewollt waren. Angemerkt sei hier, daß die Ausblendung der Angriffe der Geheimdienste gegen die DDR nur ein Bereich ist. Ein anderer war das direkte Wirken westlicher Konzerne und Wirtschaftsunternehmen, wozu ebenfalls umfangreiches Aktenmaterial in den Archiven des MfS existierte. Nicht unerwähnt bleiben darf auch die konsequente Haltung der DDR zur Aufarbeitung von Nazi- und Kriegsverbrechen. Die durch das Untersuchungsorgan des MfS dabei erzielten Ergeb­nisse geben Hinweise auf das Wirken von belasteten Nazis in Machtstrukturen der Alt-BRD und finden in den Tätigkeitsberichten der BStU keinen Platz.

Es ist höchste Zeit, diesen Gegebenheiten bei der Geschichtsaufarbeitung Rechnung zu tragen, das Handeln beider deutscher Staaten und die daraus entstandenen Wech­selwirkungen nicht länger auszublenden.

Dies zu leisten sind Roland Jahn und seine Behörde weder gewillt noch in der Lage, eingeschlossen die Tatsache, daß im Auftrag verantwortlicher Amtsträger der Bun­desregierung ganze Aktenbestände den Archiven des MfS entnommen und den USA übereignet wurden.