RotFuchs 234 – Juli 2017

Gibt es eine Perspektive für Afghanistan? (Teil 1)

Dr. Matin Baraki

I.
Versuch einer konstitutionellen Monarchie
(1964–1973)

Am 9. März 1963 gab König Mohammad Saher den Rücktritt seines Premierministers Mohammad Daud bekannt. Damit sollte dem Königreich Afghanistan die Revolution der Straße erspart bleiben. Es war der Versuch, die Umwandlung einer absoluten in eine konstitutionelle Monarchie von oben zu steuern und zu vollziehen. Die afghani­sche Monarchie sei entschlossen, „dem Volk die volle Freiheit zu lassen, die von ihm gewünschte Form der Regierung und der Verwaltung zu wählen“. Die Bevölkerung könne sicher sein, „daß wir auf dem Gebiete der demokratischen Grundsätze und der sozialen Reformen bis zum Ende gehen werden. Wir wollen, daß unser Volk sein Schicksal selber bestimmt. Wir wollen, daß es sich politischen Parteien anschließen kann“, wurde von offizieller Seite hervorgehoben. Am 11. März 1963 wurde Dr. Mo­hammad Jossof, der bisherige Minister für Bergbau und Industrie, zum neuen Ministerpräsidenten ernannt. Mit Jossof übernahmen zum ersten Mal diejenigen Kräfte außerhalb der Dynastie die Regierungsgeschäfte, die sowohl das Vertrauen des Königs als auch der herrschenden Klasse hatten. Bereits in seiner ersten Regie­rungserklärung am 28. März 1963 kündigte Jossof Reformen im politischen Bereich des Landes an, deren Kernstück die Erarbeitung einer neuen Verfassung und eines Wahlgesetzes sein sollte. Im September 1964 verabschiedete eine Loyah Djergah (Große Ratsversammlung) den Verfassungsentwurf, und am 1. Oktober 1964 wurde die neue Verfassung durch den König ratifiziert. In Artikel 1 der Verfassung heißt es: „Afghanistan ist eine konstitutionelle Monarchie und ein unabhängiger und unteil­barer Einheitsstaat.” Gestützt auf die Verfassung, traten sämtliche politische Rich­tungen mit ihren Programmen an die Öffentlichkeit. Die marxistisch orientierten Kräfte gründeten am 1. Januar 1965 in der Illegalität die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA). Ein Jahr später wurde ein Parteiengesetz verabschiedet. Premierminister Jossof hatte am 30. April 1963 gesagt, daß für Afghanistan die einzige brauchbare Lösung ein Zwei-Parteien-System sei. Dies sollte dem Interesse einer stabilen Exekutive dienlich sein und den kleineren Gruppen den Weg zur Parteienbildung versperren. Es sollte eine Königspartei als Regierungspartei gebildet werden aus Anhängern des Königs und ihm nahestehenden Kräften, die zweite Partei sollte als „Oppositionspartei“ fungieren, mit einer Loyalitätsverpflichtung gegenüber dem König.

Erstmals wurden Parlamentswahlen (vom 10. bis 25. September 1965) mit Beteili­gung der breiten Massen des Volkes durchgeführt. Am 25. Oktober 1965 demonstrier­ten während der Debatte des Parlaments über die Vertrauensfrage des neugebildeten Kabinetts, wiederum unter Leitung von Dr. Mohammad Jossof, Schüler und Studenten öffentlich. Ihr Protest galt der Zusammensetzung des Kabinetts Jossof, welchem dem Volk als äußerst korrupt bekannte Personen wie Said Qasem Reschtia als Finanzminister angehörten. Polizei und Militär gingen mit Waffengewalt gegen die Demonstranten vor; nach offiziellen Angaben wurden drei Menschen getötet, einige Dutzend verletzt. Unabhängige Beobachter berichteten von mehr als 20 bis 30 getöteten Schülern und Studenten.

Um die Lage zu entspannen, trat Dr. Jossof am 29. Oktober 1965 als Regierungschef zurück. Damit war der erste Demokratisierungsversuch, bekannt als „Stille Revolu­tion“, gescheitert. Die neun bis April 1978 aufeinander folgenden Regierungen ver­mochten es ebenfalls nicht, die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung auch nur annähernd zu befriedigen.

II.
König Saher, der Schatten Allahs, wird hinweggefegt
(1973–1978)

Afghanistan gehörte in vielen Bereichen zu den am wenigsten entwickelten und ärmsten Ländern der Welt. Es war laut UNO-Statistik schon damals das unterent­wickeltste Land Asiens.

Trotz der von den Staaten des Westens, vor allem von den USA und der BRD, an Afghanistan über Jahrzehnte gewährten neokolonialistischen „Entwicklungshilfe“ hatte sich die sozioökonomische Situation in Afghanistan von Jahr zu Jahr ver­schlechtert. Einzig die Verschuldung, nicht zuletzt für die zahlreichen, teilweise wenig erfolgreichen bzw. gescheiterten Entwicklungsprojekte, nahm weiter kräftig zu, so daß die Lage für die Monarchie insgesamt immer bedrohlicher wurde.

Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung lebte ohnehin schon am Rande des Existenzminimums. Als der Hungersnot nach der verheerenden Dürreperiode von 1971/72 geschätzte anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen, war das Ende der Herrschaft von König Mohammad Zaher besiegelt. „Die Zeit für die Entscheidung, entweder über die Revolution derer, die im Schatten stehen, [...] oder aber durch einschneidende Maßnahmen zur modernen Demokratie zu kommen, war nicht mehr fern. Es mußte über kurz oder lang seitens der Monarchie etwas geschehen, oder es würde mit der Monarchie etwas passieren.“ Am 17. Juli 1973 putschten die der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) zugehörigen Militäroffiziere gegen die Monarchie und verhalfen Mohammad Daud (von 1953 bis 1963 Ministerpräsident, außerdem Schwager und Cousin des Königs) an die Macht. Die Regierung Dauds führte aber keine der Reformen durch, die er in seiner ersten „Rede an die Nation“ versprochen hatte. Außenpolitisch warf er die traditionelle Politik der Blockfreiheit Afghanistans über Bord, indem er die Beziehungen zum Schah von Iran, zu Anwar Al Sadat von Ägypten, zu Saudi-Arabien und Pakistan intensivierte. Zunächst schloß Daud alle linken Kräfte peu à peu von allen wichtigen Positionen aus, darüber hinaus ging er im Frühjahr 1978 zur offenen Repression gegen die Parteiführung der DVPA über. Hinzu kam noch der politische Terror der Islamisten bzw. des Geheimdienstes, dem namhafte Politiker und Repräsentanten der DVPA zum Opfer fielen. Mir Akbar Chaibar, Gründungsmitglied der Partei und Mitglied des Politbüros, war am 18. April 1978 auf offener Straße erschossen worden. Außerdem ließ Daud die gesamte Parteiführung bis auf wenige Ausnahmen verhaften; sie sollte liquidiert werden. Als diese Meldung in den Abendsendungen des afghanischen Fernsehens verbreitet wurde, kam es am 27. April 1978 zum militärischen Aufstand gegen das Daud-Regime unter der Führung von Teilen der DVPA und infolgedessen auch zum Beginn eines revolutionären Prozesses (April-Revolution). Die Militärs befreiten die Parteiführung und übertrugen ihr die Leitung des Staates: Generalsekretär Nur Mohammad Taraki wurde Vorsitzender des Revolutionsrates und Ministerpräsident, Babrak Karmal sein Stellvertreter und Hafisullah Amin Außenminister. Damit war auch der zweite Ver­such, das Land am Hindukusch zu demokratisieren, gescheitert.

III.
Afghanistan darf keine Schule machen
(1978–1980)

Nach dem erfolgreichen Aufstand vom 27. April 1978 begann die Revolutionsregie­rung mit der Realisierung von Reformmaßnahmen wie der Regelung von Ehe- und Scheidungsangelegenheiten (Dekret Nr. 7 vom 17. 10. 1978), der Bodenreform (Dekret Nr. 8 vom 28. 11. 1978) sowie mit einer umfassenden Alphabetisierung, um die feuda­len und halbfeudalen Strukturen aufzubrechen. Die Bekämpfung des Analphabetis­mus war zunächst sogar so erfolgreich, daß in einem halben Jahr ca. 1,5 Millionen Menschen Lesen und Schreiben lernten, wofür Afghanistan einen Preis von der UNESCO erhielt. Im ganzen Land wurden 27 000 ständige Kurse eingerichtet, an denen insgesamt 600 000 Menschen teilnahmen.

Bei der hastigen Umsetzung der Reformen wurden viele Fehler begangen, u. a. gelang es nicht, die Bevölkerung auf die revolutionären Maßnahmen vorzubereiten, was zwangsläufig zur Stärkung der Konterrevolution führte. Ende 1979 war die Lage der Regierung so hoffnungslos, daß sowjetische Militärhilfe unumgänglich wurde, um zu verhindern, daß Afghanistan zu einem zweiten Chile (Militärputsch gegen die Regie­rung Allende am 11. 9. 1973) gemacht wurde. Die afghanische Regierung hatte insgesamt 21 Mal, u. a. in einem Telefongespräch am 18. 3. 1979 zwischen N. M. Taraki und dem Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, Alexej N. Kossygin, die Sowjetunion um Hilfe gebeten. Mit dem sowjetischen Militärengagement seit dem 27. 12. 1979, basierend auf Artikel 4 des afghanisch-sowjetischen Freundschafts­vertrages vom 5. 12. 1978 und Artikel 51 der UN-Charta, wurde der Afghanistan-Konflikt internationalisiert und zunächst verdeckt, später offen von den meisten westlichen Ländern, einschließlich der BRD und ihrer regionalen Verbündeten, geschürt. Der damalige Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Toden­höfer, plädierte vehement für die Aus- und Aufrüstung der Konterrevolutionäre mit modernsten Waffen und motivierte vor Ort die Fanatiker zum Kämpfen und zur Zerstörung Afghanistans.

Die imperialistischen Länder waren hoch erfreut, die Sowjetunion in eine Falle ge­lockt zu haben. Vom kürzlich verstorbenen ehemaligen Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter (1977–1981), Zbigniew Brzezinski, wurde das in einem Interview mit „Le Nouvel Observateur“ hervorgehoben: „Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, daß sie es tun, wissentlich erhöht.“

Ab 1979 wurde gegen Afghanistan „die größte Geheimoperation in der Geschichte der CIA durchgeführt“. Es wurden unmittelbar nach der April-Revolution unter der Regie des US-Geheimdienstes CIA und dessen pakistanischer Bruderorganisation Inter Service Intelligence (ISI) etwa 35 000 radikale Islamisten aus 40 islamischen Ländern zu schlagkräftigen, bewaffneten Organisationen umstrukturiert und auf Afghanistan losgelassen. Über 100 000 Islamisten sind damit direkt vom Krieg gegen Afghanistan beeinflußt worden. Die CIA hat die afghanische Konterrevolution im Rechnungsjahr 1985 „mit der Rekordsumme von 250 Millionen Dollar“ unterstützt. Dies machte „über 80 Prozent des CIA-Budgets für geheime Operationen aus“. Dem „Spiegel“ zufolge sind die Islamisten in den ersten zehn Jahren des Bürgerkrieges in Afghanistan offiziell mit „mehr als zwei Milliarden US-Dollar hochgerüstet worden“.

Afghanistan durfte keinesfalls Schule machen. Ansonsten würden die Herrscher der gesamten Region, angefangen von dem engsten Verbündeten der USA in Iran bis hin zu den despotischen arabischen Potentaten, von revolutionären Stürmen hinweg­gefegt werden. Die iranische Februar-Revolution 1979 war dafür ein Paradebeispiel, bei welcher der Schah von Iran, einer der mächtigsten Herrscher der Region und neben dem NATO-Partner Türkei der wichtigste Verbündete der westlichen Welt, vertrieben wurde. Die USA wurden daraufhin gezwungen, ihre Spionagestationen von der iranisch-sowjetischen Grenze in die Türkei zu verlegen, ihre rund 40 000 Militär­berater abzuziehen und den Sitz der regionalen Zentrale der CIA in Teheran zu schließen.

Als die Bemühungen der afghanischen Führung, den Konflikt politisch zu lösen, keinen Erfolg hatten, beschloß sie, zu kapitulieren. Damit war der Weg für die Islamisierung geebnet und eine große Hoffnung der Bevölkerung zerstört.

IV.
Beginn einer Islamisierung
(1992)

Die neue Führung um Außenminister Abdul Wakil, Najmudin Kawiani, Farid Masdak (alle drei waren Mitglieder des Politbüros) und Najibullahs früherem Stellvertreter und Nachfolger Abdul Rahim Hatef hatte beschlossen, am 27. April 1992 die Macht an die Konterrevolutionäre zu übertragen. Daraufhin wurde Sebghatullah Modjadedi, ihr Exil-Präsident, erstes Staatsoberhaupt der Islamischen Republik Afghanistan. Den Islamisten gelang es aufgrund divergierender politischer und ökonomischer Inter­essen jedoch nicht, das Land gemeinsam zu regieren. Der vom Volk so heiß ersehnte Frieden kehrte nicht zurück. Im Gegenteil, der Krieg wurde mit einer nie dagewesenen Brutalität fortgesetzt. Die Weltöffentlichkeit nahm dies kaum wahr, aber die letzten Nachrichten aus der afghanischen Hauptstadt Kabul lassen selbst den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina beinahe als harmlosen Konflikt erscheinen: 3000 bis 4000 Tote, 200 000 Flüchtlinge, eine Stadt ohne Wasser, Strom und Lebensmittel. Die großen Städte, darunter Kabul, wurden in Schutt und Asche gelegt. Beobachter sprachen sogar von der Einäscherung Kabuls. Dieses historische Versagen der Islamisten stand im Widerspruch zu den politisch-ökonomischen und strategischen Interessen ihrer ausländischen Auftraggeber. Denn nach deren Auffassung sollte ein mit den USA und Pakistan eng kooperierendes Regime in Afghanistan stabile politische Verhältnisse schaffen, um die Konzeption des US-amerikanischen und pakistani­schen Kapitals in der Region des Mittleren Ostens – insbesondere in den mittel­asiatischen Republiken – zu realisieren. Damit war die Geburtsstunde für die Taliban gekommen, deren Geburtshelfer die USA waren.

(Fortsetzung folgt)

Matin Baraki lehrt internationale Politik an der Universität Marburg.