RotFuchs 232 – Mai 2017

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Ich brauchte diesen Frühling. Nach gerade diesem Winter in meinem Leben war ich sehnsüchtig nach Auferstehen; noch einmal so atmen, sich so strecken, noch einmal alles für möglich halten oder wenigstens, daß Angefangenes sein vorerst letztes Wort findet. Die Eisheiligen überstehen, in der Schafskälte tiefer atmen, lächeln und dann tausend Blüten für einen madigen Appel im Herbst; ist doch auch schön. Sogar die nüchterne Napoleonspappel gibt sich, als könne sie beschwingt sein. Ein ganzes Menschenleben lang liebe ich diesen weißen blauen durchdringenden Flieder. Na ja, gib nach, altes Herz, wenn’s blüht, dann brennt’s.

Ich brauchte diesen Frühling, mitten im Leben. Mitten in welchem Leben? Man muß leben / gehen und fliegen / unterliegen / und auferstehn / immer wieder erste Schritte gehen / leise sein und die Stimme erheben / ein ganzes Ich erleben … irgendwas zu Ende bringen …

Kindheit

Auch dieser Frühling ist wieder mit keinem anderen vorher oder nachher zu verglei­chen. Die Seele öffnet sich weit, ihre Augen und Ohren – wieso „ihre Augen und Ohren“, wieso? Wenn sie gerade so fühlt, muß sie doch auch so reden dürfen. Schnäbelt doch auch sonst alles, von wiederkehrenden Zugvögeln bis hin zum leisen Gelehrten, alles hat sein eigenes Lebenslied.

Ich brauchte diesen Mai, auch, weil ich schon lange den Monat der Befreiung von Mord und Totschlag, Haß und Unrecht durch Macht, immer still für mich begehe. Meine Augen finden im Regal leicht die Bücher, in die ich traditionell einen Blick werfe. Immer wieder entdecke ich Stellen, Zeilen und Gedanken, die ich bisher übersehen haben muß. Kann es sein, daß auch wichtige Bedenken und Vorschläge vom täglichen Leben verschüttet werden? Rudi Hirsch, mein bescheidener kluger Kollege, ich habe mir doch vorgenommen, das Buch über den gelben Fleck so zu verinnerlichen, daß ich nur auf den Titel schauen muß, damit alles geweckt wird, was sich zum Thema Judenverfolgung im Dritten Reich angestaut hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß in meinem Leben das Erdulden von Fred Wander oder Peter Edel oder Eva Lippold oder Selma Meerbaum-Eisinger durch ihre Bücher mehr wurde als Lektüre. Es bleibt Schule und niemals verstummende Mahnung, bleibt schwierige Hinnahme von fremdem Leid, hat mich verändert, eingegriffen in mein Leben. Victor Klemperer zwang mich weiterzudenken. Zitate aus seinen Erinnerungen waren bei uns Worte, die ins alltägliche Leben reichten. Nun wäre es wieder Zeit, an ihn und Eva zu denken. Nachzulesen, was die eigene Kraft zur Bestärkung braucht.

Aber es ist ja Frühling. Noch einer. Und er darf ungetrübt und sentimental sein. Rund um meinen Geburtstag will ich ihn klein halten. Das Herz hat zu tun mit Trauer, welt­weiter Bedrängnis und der Kenntnisnahme erfrischten Machtkampfes. Was sich zu widersprechen scheint, gehört zusammen. Aber mit der Ernüchterung allein kann auch kein Mensch leben. Ja, ich bin bereit, mir noch einmal den Jahreskalender zu richten, wenn Stimmen gegen Machtmißbrauch, Bedrohung der Erde oder unerträg­lich hohe Stärkung der Maschinerie zum Töten erfrischt daherkommen. Schlagworte, nur scheinbar verwelktes Gras, das neu begossen wird, sprießt und protzt. Wenn wir uns treffen sollen, wer wird da neben mir sein? Wer von jenen heute Alten, die mutig gegen ihre eigenen Genossen Einwände aufgebracht haben, wenn aus der Macht persönlicher Anspruch wurde oder Mißachtung von Veränderungen, für die es Zeit war. Es gibt Versäumnisse, die tiefere Scharten schlagen, als das Herz noch so geduldig auszuwetzen vermag. Darüber ist fast alles gesagt.

Aber diesmal werde ich in die Gärten der Welt gehen und Freunde in ihren Oasen besuchen. Vielleicht mitten im Wald an einen See gelangen, und die unwiederholbare Zeit mit meiner Urenkelin genießen.

Ich kenne den angeblich wirksamen Schutz vor der Härte des Lebens, vor Auseinan­dersetzungen über den richtigen Weg zum richtigen Ziel. Gemeint ist die Isolation.

Ich will aber einen Frühling und brauche einen Prüfstand. Noch einmal die Blicke auf das Wesentliche richten. Kein Gehampel, kein Gewurschtel. Es wird weiterhin so sein, daß ein erheblicher Teil des gealterten Lebens abgegeben werden muß. Das braucht es für ein wirksames Nein! Gegen ein „Na ja vielleicht“, „Bestimmt irgendwann“ und „Erst mal sehn“! Wachsein, Ohren und Augen öffnen. Der alte abgetretene Bundes­präsident hat die Frage gestellt, ob wir denn zu schwach sind, das „ganz andere“ zu ertragen. Er findet das nicht. Ich frage: Was meint er? Ein anderer Vorschlag, ein anderes Stück Weg? Das könnten wir aushalten. Nicht aber eine andere Auslegung der Gesetze, angestrebte Allmacht und Mißbrauch von Macht.

Viele Leute sagen mir: „Wir können doch nichts machen.“ Diesen Satz, diese Ausrede, kennen wir schon zu lange. Es wäre möglich, auf einer Erde zu leben, die Nahrung und gesundes Wasser und Raum hat, um würdevoll zu leben und zu sterben. Die Menschen darauf könnten glaubwürdige Herren eines Planeten sein. Aber sie lassen sich gefallen, daß die einen ohne Absprache Raketen abfeuern, und die anderen mit dem Finger nah auf dem wichtigsten Knopf in ihren Papieren fummeln. Mit dem Mikrofon in der Hand erzählen sie gefährlichen Unsinn. Ist eine Religion an sich lebensfremder als eine andere, oder ist es nur die Auslegung, das Potential, das sie zur Waffe macht?

Längst beantwortete Fragen.

Im Zweifelsfall müßte es immer heißen: Wir. Wir haben zugelassen … War es schon einmal anders? Ja, aber nie für lange. In der Macht scheint ein Virus zu stecken, der die Ausübung durchtränkt. Besser vorbereitete Wahlen? Könnte das helfen inmitten von mißbrauchtem Fortschritt im täglichen Leben, Mißdeutungen im Weltmaßstab?

Wir sagen, was zu sagen ist, wollen mitdenken und uns einmischen.

In diesem Frühling wollte ich mir überlegen, ob sich die Opfer an Zeit und Kraft eigentlich lohnen. Ja, was denn sonst! Aber doch auch so, daß ich mir mitten im Frühling die Freude auf den Sommer und den immer einzigartigen September leisten kann.

Aufsässig sein und sich wehren, sobald man weiß, wogegen und wofür. Damit nicht allein bleiben. Auf dem langen Weg braucht es einen oder eine rechts und links von dir, auf die du dich verlassen kannst.

Nun ja:

Die ganz normalen Leute denken
Courage würde was kosten
glühende Zangen könnten sich senken
was wird dann aus dem höheren Posten

Die ganz normalen Leute weinen
fallen andre in zu tiefen Graben
dann gehn sie nach Hause, trinken sich einen
darauf, daß sie’s leichter haben

Sie haben mit sich zu tun
und lassen die Dinge der Welt
lieber auf sich beruhn
Mit dem Stein des Sisyphos umherzuwandern
überlassen die ganz normalen Leute
doch lieber den andern

Aber die ganz normalen Leute
sind oft jene stillen Helden
die sich bei Gefahr im Verzug
immer als erste melden

Das Wissen darüber, ob du so jemanden neben dir hast, kannst du nur durch Erfah­rung erwerben. Sei selber jemand, den man sich für unterwegs wünschen würde.

Ich denke an einen Mann, der an einem späten Herbsttag vor die Wahl gestellt wurde, mit einem Befehl tödliche Ruhe zu schaffen oder zuzulassen, daß Menschen ihre eigenen Entscheidungen für oder gegen alles bisher Gelebte treffen können. Eine größere Überforderung kann ich mir für einen einzelnen Menschen nicht vorstellen. Es hat damals keine doch mögliche Gewalt gegeben. Diese Worte „Keine Gewalt“ waren der Schlüssel zum Öffnen einer Tür, die jeden hinein und alles hinaus ließ, was sich da Leben nannte. Noch heute denke ich, daß ich niemals in eine solche Situation kommen möchte. Ich habe ja auch gesehen, wie dieser Mann dafür bedankt wurde. Gar nicht. Wenigstens ein Händedruck als – Dank? Ja, als Dank.