RotFuchs 236 – September 2017

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Alles soll mich erinnern. Immer! Alles, was mich erschüttert hat, hochgetrieben, in den Rücken geboxt. Was in mein Gehirn gelangt ist, in meine Seele, in mein Herz. Ich will mich erinnern, was mich innerhalb eines Augenblicks beeinflußt hat, verändert oder erschreckt, weil ich es anders wußte, glaubte oder vorher nicht erkannt habe. Ich will wissen, was meine Augen gesehen haben. Die Straße Unter den Linden, ein­mal, mit einem Netz überzogen und mit Tannen bestückt, um sie vor Bomben zu schützen. Nicht gerade erfolgreich, wie ich später sah. Den Georgenkirchplatz weiß ich noch, kann ihn riechen, mit Bildern ausstatten, so daß es für einen Moment scheint, als ob er nicht spurlos, vom Krieg zerstört, abgeräumt worden wäre. Die ungenaue Erinnerung meint, daß ich in einen Omnibus die Linden entlanggefahren bin, und so zwischen Bus und Himmel diese Verdunklung am hellen Tag gesehen habe. Damals war ich zwölf Jahre alt. Eine andere Erinnerung: Ich war mit meiner sechsten Klasse, auch Unter den Linden, in der Ausstellung „Das Sowjetparadies“, in der ich viele Fotos von schrecklichen Verhältnissen beim „russischen Feind“ gesehen habe, ohne sie zu verstehen. Erst Jahre später konnte ich diese merkwürdige Erinne­rung einreihen in mein persönliches Gedenkbuch. Noch später sah ich den Gedenk­stein für die jungen Widerstandskämpfer, die jene Ausstellung angezündet haben und diese mutige Tat mit ihrem Leben bezahlten. Wann hat eine andere Erinnerung ihren bleibenden Platz eingenommen? Sie will wissen, daß ich stolz darauf war, den Gips­kopf von Hitler aus dem alten Schulhaus in Aspach am Inn über die Landstraße zu tragen. Bis zum Kinosaal des Altnazis Hoffmann, der sehr reich und sehr unbarm­herzig zu Kriegsgefangenen und auch zu seiner Tochter war. Sie hatte ein Kind und sollte wegen Lebensgefahr kein zweites bekommen. Ihr Vater wollte aber, daß sie dem Führer viele Kinder schenkt. Sie hat die zweite Entbindung nicht überlebt …

Ich will aber auch wissen und nie vergessen, daß ich trotz meiner miserablen Her­kunft Stolz empfinden konnte. Ein früher Anflug von Würde: für kriegsgefangene Franzosen, die im Dorf Zwangsarbeit verrichteten, Schmiere zu stehen. Damit sie in ihrer Sprache „feindliche“ Nachrichten hören konnten. Immer das Neueste vom Rück­zug, neunzehnhundertdreiundvierzig – ein Rückzug, in dem auch unser junger Bauer irgendwo starb.

Ich will mich erinnern. An Selma Meerbaum-Eisinger, ein Mädchen aus einem rumä­nischen Dorf. Sie hat ihre wunderschönen Gedichte in düsterster Zeit und ihren dro­henden Tod ahnend, nein, wissend, aus einer Seele offenbart, die für alles Schöne im Lebendigen geschaffen war. Der Junge, der ihre erste Liebe war, konnte sich nach Amerika retten. So blieben wenigstens jene Gedichte erhalten, die sie ihm schickte. Sie wurden 1981 im „Poesiealbum“ 166 veröffentlicht, bei uns, in der DDR. Gedichte, die mein Leben beeinflußt haben.

Ich lernte, Unverzeihliches auch so zu nennen, für immer. Ich will mich erinnern da­ran, daß ich Menschen kennenlernen durfte, die mir Lehrer, Vorbild und Freund wur­den. Eine Chance, die mir als halbgebildeter Person weiblichen Geschlechts unver­dient zuteil wurde. Ich durfte, manchmal überanstrengt, immer bedrückt, stundenlang zuhören, wenn Peter Edel mir aus der entstehenden Autobiographie „Wenn es ans Leben geht“ vorlas. Jene zwei Bände, die er dem Krebs abtrotzte. Was habe ich ihm denn geben können, außer meinem Hunger danach, auch das Unerträgliche zu hören. Solche Beachtung hätte stolz machen können, aber mein Interesse war, es sollte etwas auf das Unwissen einstürzen, einhämmern. Meine Erinnerung sagt, daß jene Schule anstrengend war, daß sie aber auch für mehr Angemessenheit sorgte, wo sie nötig war.

Es war ein netter Anfang, mich in Feuilletons über die Gedanken einer Pariser Haus­frau zu äußern. Besser war, daß mich Kurt Huhn, Chefredakteur der „Schatulle“ und kluger alter Genosse, nach ein paar Texten solcher Art aufforderte, über mich selber nachzudenken und zu schreiben, statt über Madeleine in Paris. Ich bin damals aus einem Wegdenken erwacht, das ich später noch oft genug bremsen mußte. Ich erin­nere mich, wie ich beim Rundfunk in einer Lyriksendung zum ersten Mal ein eigenes Gedicht vortrug. Meine Knie zitterten, mein Herz schlug so laut, daß ich Angst hatte, man könne dies statt meiner Verse hören. Es war ein unreifes Geschreibsel, ein auf dem Weg verlorener Seelenkäse. Ich war jung und weiß nicht einmal, wer außer mir in jener Sendung Verse sprach. An jenem Tag hatte ich nicht einmal eine Ahnung davon, wie wenig dieser Auftritt bedeutete.

Aus dem Film „Du und mancher Kamerad“ (1956)

Ich darf nicht vergessen, woran meine Jugendehe zerbrach. Ich war siebzehn. Und die Trennung wurde nötig durch den Dokumentarfilm „Du und mancher Kamerad“. Er löste bei mir eine Revolution im scheinbaren Wissen aus, und bei ihm eine unsäg­liche Reaktion auf die Bilder aus Auschwitz. Es war die Trennung, sofort und unabänderlich. Ich will nie vergessen, wie das gewesen ist, als der Herzschlag der Mutter aus der hohen, steinernen Figur über das ganze ehe­malige Lager dröhnte. Immer. Ich konnte nur fühlen, weinen und hoffen, daß ich zu­sammenbreche und liegenbleibe. Nicht meine Überforderung ist mir unvergeßlich, sondern, wer mich da in den Arm genommen hat und zu trösten versuchte, wer mich freisprach. Das waren Menschen aus Moskau, aus Kiew, aus Leningrad, Besucher wie ich. Sie haben auch geweint. Und zu mir gesagt: „Du warst ein Kind. Du bist nicht schuldig.“

Was immer seither geschehen ist – in Kiew, Leningrad oder Moskau –, was immer ich verstand oder zu verstehen suchte, ich werde auch die Ausstellung mit den Bildern von der Belagerung in Leningrad nie vergessen. Und fühle mich persönlich verletzt, wenn verfügt wird, daß für Leningrad – heute wieder Sankt Petersburg – das Bran­denburger Tor kein Lichtzeichen der Anteilnahme geben darf.

Und Auschwitz blieb für mich ein Wort, das ich immer wußte, wenn ich zu Hause meine Zweifel an der neuen Gesellschaft und ihren Entwürfen hatte.

Ich weiß, daß man eine Kindheit haben kann, die den Blick auf Tod und Leben über­heblich macht. Ich hatte sie nicht. Vom Tod meines Großvaters war ich weniger er­schüttert als am Grab von Annemarie Bostroem. Sie hat mich ermutigt, Gedichte zu lieben und mich ein Leben lang mit ihnen zu beschäftigen. Mein Großvater dagegen hat mir nur einen Spruch hinterlassen, den er jeden Tag abnutzte: „Was nützt des Menschen hoher Geist, wenn er im Bette sitzt und schwitzt?“ Er war ein Fußballfan und machte die Erfahrung, daß ihm sonntäglicher, jahrzehntelanger Besuch der Spiele dann beim Fußball-Toto gar nichts nützte.

Er hat gesehen, wie wir in dieser Großfamilie gelebt haben, und hat zu allem ge­schwiegen. Ob wir Kinder geschlagen wurden oder ausgelacht oder einfach vernach­lässigt, er hatte seine Sammlung von Wanduhren, seinen Fußball und sein Schwei­gen. Vermutlich hat er uns auch nicht mehr geliebt, als er sich geliebt fühlte. Von der Frau, die er als Sechzehnjährige im Böhmischen geheiratet und nach Berlin gebracht hat. Sie verlor von acht Kindern fünf im Kindesalter und fühlte sich von allen und für immer ungeliebt. Wahrscheinlich hatte sie recht.

Ich will mich an alles erinnern. Um es aufzuschreiben? Auch das. Als Protokoll, als Buch, als alltägliche politische Haltung, als etwas, das man ohnehin nicht verdrängen kann. Erinnerung bleibt nicht, was sie im Augenblick der Entstehung ist. Aus all den Momenten, Bildern, gefährlichen Fallen und Sekunden des Glücks entwickelt sich unser Charakter.

Nur ein Leben? Ein einziges? Die Hälfte unseres Atems ist Erinnerung. Ich staune oft, wieviel ich noch weiß.