RotFuchs 205 – Februar 2015

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Wenn ich schreibe, denke ich mir selten etwas aus. An Phantasie und Lust dazu würde es nicht fehlen, aber die Erinnerungen sind stärker. Was mich geprägt hat, war das Beobachten einer Lebensart, die ich für mich nicht wollte.

An jedem 2. Februar denke ich, daß heute Lichtmeß ist. Da wechselten die Mägde im oberösterreichischen Dorf oft auf einen anderen Bauernhof, wie immer für fünfzig Mark im Monat und die gleiche Arbeit. Vorher war ein wortkarger Bauer gekommen, legte fünf Mark auf den Tisch, und so verdingte sie sich neu, für Schweinefleisch mit Klößen. Und ein Bett in ofenloser Kammer, die sie mit der Kleinmagd teilte.

Die Habe der Mägde, „Dirn’“ genannt, bestand aus dem eigenen Schrank, den der Bauer schräg auf seinen Leiterwagen hievte, ehe er die Frau auflud. Es war Krieg, die Männer kamen nicht mehr fensterln, sie waren in Rußland.

So waren das Mähen, das Kalb herausziehen, Schlachten und den Stier beim Besamen halten nun auch noch Frauensache. Am Sonntag und an kirchlichen Feiertagen hatte sie frei. Da mußte sie nur dreimal ein Dutzend Kühe melken, dreimal füttern und zweimal ausmisten. Die übrige Zeit konnte sie an ihrem meterlangen schmalen Sargband sticken, für die eigene Beerdigung. Ich habe auch ein paar „Kreuzel“ beigetragen, und nahm mir beim Sticken ein anderes Leben vor. Gab es später Überforderung, erwuchs die aus dem eigenen Streben.

Dreißig Jahre später war ich zu Besuch dort. Mägde und Knechte gab es nicht mehr, Melken und Buttern waren automatisiert, es gab eine Dusche neben dem Kuhstall- und eine „Kronenzeitung“. Und neue Häuser mit allem Komfort, einen Sportplatz sogar, asphaltierte Straßen, autogerecht. Die Bäuerin las ihre tägliche Zeitung, die mit der Krone. Der Inhalt: ein Grund, ohne Tränen wieder abzureisen. Wir haben beim Wiedersehen vor Freude geweint und konnten keinen Gedanken teilen.

Ich denke heute, daß meinetwegen niemand im All seine geniale Fähigkeit zum Risiko und zur totalen Abgeschnittenheit beweisen muß. Der Mutige, Sympathische, sieht die Erde von oben, so zerbrechlich, daß er sich wundert, „warum sich die da unten gegenseitig bekriegen“.

Aber sie tun es, und niemals als Ersttäter, sondern als, mit den zugegeben bedauerlich falschen Methoden, um ihr Recht Kämpfende. Wo immer es „losgeht“, wird nur zurückgeschlagen, wird Auge um Auge bezahlt, schlägst du meine Wange – oder ich denke, du hast das vor, nehme ich deiner Frau die Würde, weil ich ja weiß, daß ich damit deine Mannesehre zerstöre.

„Wir leben in einer Zeit vollkommener Mittel und verworrener Ziele.“ Das hat Albert Einstein gesagt. Ein kluges und auch heute treffendes Wort zur derzeitigen, Angst machenden Lage.

Wenn wir wollen, können wir in kürzester Zeit ein Mittel gegen Ebola mixen, dessen langer Weg in den Laboratorien auf Versäumnisse weist. Wir können dulden, daß gewählte Volksvertreter eine Aura von Mittelmäßigkeit und Lustlosigkeit, neben unsachlicher Gehässigkeit gegeneinander, ausstrahlen und durch die Medien verbreiten, so, daß sich die Zahl derer, die sich das im Fernsehen anhören, stark nach unten bewegt. Wenn man sieht, wie sie mit einem Zettel in der Hand zum Pult schreiten, um ihre Meinung dort abzulesen, wünschte man sich, das wäre verboten. Früher haben sich Leute wie Strauß, Wehner, Schmidt und sogar noch Schröder die Wörter und Argumente um die Ohren gehauen.

Sie waren keine „höh’ren Wesen“, und nichts hat uns vor ihren höheren, nie aufgegebenen strategischen Plänen bewahrt. Aber die Heutigen scheinen in ihrem Hohen Haus nicht zu bedenken, wie ablesbar, wie durchschaubar inzwischen ihr Trachten ist. Sie spielen mit verteiltem Schuldanteil das Szenarium durch: Tun wir doch mal so, als ob wir glauben, daß der Russe an allem schuld ist. An Nazis auf dem Maidan, an der viel zu schönen Olympiade in Sotschi, am Widerstand gegen zu nahe Raketen an ihren Grenzen, am Versuch, sich zu schützen.

Die Amis haben sich Texas geschnappt, aber die auf der Krim haben kein Recht, gegnerische Pläne zu durchkreuzen.

Vermutlich glauben die uns regierenden Leute nicht an das, was sie in ihren Gremien vertreten. Sie tragen vor, quengeln ein bißchen herum und winken durch. Wie sonst wäre eine solche Bewohnung des Schlosses für den höchsten Herrn im Staate möglich. Und wenn er ab morgen barfuß ginge, und als Expastor dem Papst Franziskus zu gleichen suchte – wie sollte denn sein Vorleben aus unserem Gedächtnis gelöscht werden, so, daß wir ihm vertrauen wollten?

Ich habe ihm als Wahlfrau im Bundestag meine Stimme versagt. Beim zweiten Anlauf haben aber doch zu viele Herzen für ihn votiert. Nur: Als er seine Rede auf der Westerplatte von sich gab, zeigte sich die ganze Fragwürdigkeit einer falschen Besetzung. Und des zu geringen Widerstandes im politischen Umfeld.

Unsere Politiker sind nicht glaubwürdig, daher kommt die enge Grenze ihres Einflusses. Sie haben auch keine Konzeption für Bildung, Arbeit und das Einleben der Flüchtlinge. Die behalten bei uns ihren Atem, aber ein Leben gewinnen sie nicht. Es gibt einzelne Persönlichkeiten, die Vorschläge machen, mit den Kids kicken, Kultur einbringen, aber sie können nichts ersetzen. Wer sich da einmischt, wird „aus der Mitte der Gesellschaft“, angegriffen. Ermutigung für nachreisende Ehefrauen, die Sprache des für sie neuen Landes zu erlernen, ist abgeblockt worden. Aber ohne die einheimische Sprache wird die Frau in ihrer traditionellen Ungleichwertigkeit festgehalten.

„Er hat ihr doch nur eine Ohrfeige gegeben“, sagt sein Kumpel und schreitet damit gegen die öffentliche Verurteilung des Mörders von Tudge ein. Bloß eine Ohrfeige, das ist doch gar nichts. Schließlich hat sie den Täter gehindert, minderjährige Mädchen zu belästigen. Die Trauer um diese junge Frau ist echt – aber sie wird nichts ändern. Denn diese Gesellschaft verdrängt alles, was keinen Gewinn bringt. Es geht ihr noch immer um Wichtigeres. Die unanständige Bereicherung an der DDR verblaßt vor der dringenden Abrechnung mit ihren Bewohnern, gar deren Führungspersonal. Der Kabarettist Dieter Nuhr hat bei der Abrechnung für 2014 noch einmal an die Zustimmung für den Mauerfall erinnert: „Aber wir wußten ja nicht, was da alles rübergekrabbelt kommt.“ Läuse und Wanzen?

Eine von Strafe und Rache geprägte Behörde geleitet zu haben, im früheren Leben selber nachweisbar erbötig, macht spätere Tugend-Reden unglaubwürdig. Das Schlimmste in der Gegenwart: Es ist „da oben“ kein Wille zum Umdenken da, oder er ist nicht erkennbar.

Menschen, die keine Verantwortung für ihr eigenes und das Leben auf der Erde übernehmen können, weil ihnen das Wissen und das Bedürfnis dazu fehlen, kommen häufig aus Familien, die ihnen verfehlten Anspruch und Phlegma vorgelebt haben. Der Staat hat ihnen das mit einer Agenda ermöglicht. Umdenken, statt Gänsekeule für Obdachlose, wäre der Weg. Ich sehe nicht, daß Befugte sich dazu auf die Socken machen. „Irgendwie Maut“ scheint wichtig. Erhöhung der Frauenquote in Chefetagen statt Veränderung der Lern- und Lebenschancen für Frauen. Minderung der Pflichten als gleichzeitig dreifach Zuständige, das ist nicht in Arbeit, und „Gender“ hat gar nichts gebracht. Nur zynische Vorschläge. Wir könnten doch beizeiten unser Erbgut einfrieren, für viel später, dann wären wir in den besten Jahren verfügbar wie ein Mann. Man muß die Natur nicht überschätzen, aber respektieren sollten wir sie schon.

Allein fühle ich mich mit meinen Einwänden nicht. Das ist ein gewaltiger Trost, immer wieder der nächsten Chance, dem nächsten Frühling zu.

Dasein

Dasein
in dem einen Leben
das uns gegeben ist

Dasein
etwas daraus machen
daß dich jemand braucht
dich vermißt

Dasein
für den Frieden da sein
daß er erhalten bleibt