RotFuchs 186 – Juli 2013

Vom Knecht auf dem Bauernhof zum Obersten Richter der DDR

Günter Sarge gibt Auskunft

Hans Bauer

Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet der Justizminister der BRD auf einer Richtertagung 1991 den Auftrag zur Delegitimierung der DDR erteilt hat. Deutlicher konnte er den Klassencharakter seines „Rechtsstaates“ nicht machen. Das Schlagwort vom „Unrechtsstaat“ ist seitdem zum Synonym für die Verteufelung der DDR geworden. Alle Angriffe auf sie sind mit Verleumdungen ihrer Rechtsordnung verbunden. Heute existiert ein regelrechtes Netzwerk, das unter Leitung eines Staatsministers im Bundeskanzleramt den Nachweis des „Unrechtsstaates“ erbringen soll. Der Beschluß der Bundesregierung vom 9. Januar und die Bundestagsdebatte vom 22. März 2013 zur „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ belegen das erneut. Angesichts solcher Tatsachenverfälschung ist Aufklärung vonnöten. Günter Sarge leistet mit seinem Buch „Im Dienste des Rechts. Der oberste Richter der DDR erinnert sich“ einen wichtigen Beitrag dazu. In diesen autobiographischen Darlegungen zeichnet er seine Entwicklung vom „Knecht auf dem Bauernhof“ zum Präsidenten des Obersten Gerichts als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses eindrucksvoll nach. Er belegt am eigenen Beispiel überzeugend, wie und mit welchen politischen Kräften sich die DDR von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zum sozialistischen Staat entwickelte und vervollkommnete.

Seinen Einstieg in den Staatsdienst vollzieht Sarge als Angehöriger der Polizei. Ab 1953 steht er im Dienste des Rechts. Damals wurde auf Befehl des Innenministers der DDR ein Untersuchungsbüro der Kasernierten Volkspolizei (KVP) gegründet. Nach einem Juristenlehrgang, Studium und Dissertation nimmt Günter Sarge verantwortungsvolle Aufgaben in der Justiz wahr: Viele Jahre ist er in den Rechtsorganen der bewaffneten Kräfte als Untersuchungsführer und Militärstaatsanwalt tätig, ab 1962 als Vorsitzender des Militärkollegiums des höchsten Gerichts der DDR, um eine entsprechende Militärgerichtsbarkeit aufzubauen. Seit 1971 Vizepräsident und ab 1986 Präsident des Obersten Gerichts, hat er entscheidenden Anteil an der Herausbildung der sozialistischen Rechtspflege der DDR.

Mit seinen reichen Erfahrungen vermittelt der Autor tiefe Einblicke in einen gesellschaftlichen Bereich, der heute in besonderem Maße Gegenstand antisozialistischer Verfälschungen ist. Die von ihm vermittelten Informationen zur personellen Zusammensetzung, Organisation und Arbeitsweise der Militärgerichte und des Obersten Gerichts, über deren Beziehungen zur Partei- und Staatsführung sowie zu Ministerien vermitteln Wissenswertes, wie dieser Bereich der Justiz rechtsstaatlich, souverän und solide gearbeitet hat. Sie zeigen das erfolgreiche Ringen um Einheitlichkeit, Verständlichkeit und Bürgernähe der Strafrechtsprechung – Ansprüche, die man in der BRD-Justiz vergeblich sucht.

Anschaulich widerlegt Sarge Behauptungen, die DDR-Gerichte seien nicht unabhängig gewesen. An Beispielen zeigt er, wie diese Unabhängigkeit nicht nur verfassungsmäßig vorgeschrieben war, sondern auch in der Praxis umgesetzt wurde. Und wie sie die Partei- und Staatsführung respektierte, wenn bisweilen auch widerwillig. Aufschlußreiches berichtet Sarge über die Demokratie im Recht – von der Wahl der Richter durch Volkskammer und Volksvertretungen bis zur aktiven Mitwirkung ebenfalls gewählter Schöffen in Verfahren. Er gibt Einblick, wie Gesetze geschaffen wurden. So schildert er z. B., wie unter seiner Leitung die neue Militärgesetzgebung der DDR entstand, wobei internationale Erfahrungen und völkerrechtliche Anforderungen berücksichtigt wurden. So mußte u. a. das komplizierte Rechtsverhältnis von Gesetz und Befehl geklärt werden.

Besonders informativ sind seine Ausführungen zur Wahrheitsfindung im Strafprozeß. Nach der Marxschen Erkenntnis: „Der Weg zur Wahrheit“ müsse „selbst wahr sein“, erarbeitete das Oberste Gericht 1978 und 1988 Beweisrichtlinien, die höchsten internationalen Standards entsprachen. Die Feststellungen zum Beweiswert des Geständnisses z. B. setzten nicht nur für die gerichtliche Praxis der DDR Maßstäbe. Solche Erkenntnisse und verpflichtenden Orientierungen zu Beweisfragen gibt es im BRD-Recht nicht. Angeblich würde das der Unabhängigkeit der Richter schaden, heißt es.

In seinem Buch spart Sarge auch äußerst brisante Fragen nicht aus, so zur Wehrdienst- und Totalverweigerung, zur kriminellen Asozialität, zur Todesstrafe, zu fehlerhaften Urteilen und zur Kassation. Auseinandersetzungen mit manchen Funktionären werden nicht verschwiegen.

Für den Leser von besonderem Interesse sind seine Schilderungen zu einzelnen Spionagefällen sowie zu Wirtschafts-, Tötungs- und anderen Verbrechen.

Im letzten Teil seines Buches befaßt sich der Autor mit dem Feldzug gegen die DDR nach 1990, der bekanntlich auch unter Anwendung von Mitteln der Strafjustiz bei Verletzung nationalen und internationalen Rechts geführt wurde. Der prominente Jurist wurde – wie Hunderte Verantwortungsträger der DDR, darunter über 160 Richter und Staatsanwälte – selbst verfolgt. So gehörte auch Günter Sarge von Beginn an zu jenen, welche solidarisch gegen dieses politisch motivierte Justizunrecht auftraten und vor 20 Jahren die Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e. V. (GRH) gründeten.

Günter Sarge gibt eine klare Antwort auf die Frage, ob die DDR ein Rechtsstaat war: „Ich verstehe darunter einen Staat, dessen Rechtssetzung dem international anerkannten Rechtsstandard entspricht, der diese Gesetze selbst einhält und auch durchsetzt, der sein Handeln nach den Gesetzen ausrichtet, den Bürgern gegenüber Fürsorge und Gerechtigkeit walten läßt und die in der Verfassung des Landes festgeschriebenen Rechte und Pflichten sichert. Unter diesen Prämissen war die DDR ein Rechtsstaat sozialistischer Prägung.“

Unser Autor ist Vorsitzender der GRH und Vorstandsmitglied des RF-Fördervereins. In der DDR war er zuletzt Stellvertretender Generalstaatsanwalt.

Günther Sarge:

Im Dienste des Rechts
Der oberste Richter der DDR erinnert sich

edition ost, 256 Seiten, ISBN 978-3-360-01844-1

17,99 Euro