RotFuchs 210 – Juli 2015

Hochkonjunktur der Geschichtsfälscher

Jobst-Heinrich Müller

Am 8. und 9. Mai wurde an die Befreiung der Völker Europas von der Geißel des Faschismus – der ungeheuerlichsten Barbarei in der Menschheitsgeschichte – zum 70. Mal erinnert. Während die einen dieses Jubiläum zum „Tag des Kriegsendes“ degradierten und andere sich heuchlerisch in den „Mantel der Geschichte“ zu hüllen suchten, war es für deutsche Antifaschisten der ersehnte Wendepunkt in der Chronik des Kontinents. Die großartige Militärparade am 9. Mai in Moskau verdeutlichte einerseits die später verspielte historische Chance, vermittelte andererseits aber auch ein Gefühl neuer Hoffnung.

In der BRD gab es in diesem Zusammenhang Licht und Schatten: Neben eindrucksvollen Würdigungen, echten Volksfesten unter russischer Beteiligung und bemerkenswerten Publikationen manifestierte sich auch die verhängnisvolle Restauration des deutschen Imperialismus, der in der immer offeneren Duldung neofaschistischer Wahnvorstellungen seinen Ausdruck findet. Die bewußte Relativierung der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und am Völkermord,  kaum maskierte neue Expansionslust und ungezügelte Haßpropaganda, besonders gegen den „Erbfeind“ Rußland, inspirieren zur noch rabiateren Verbreitung eines verlogenen Geschichtsbildes. Es besteht aus mehreren Komponenten. Einige davon möchte ich im folgenden andeuten.

Es begann bereits 2014 mit dem 100. Jahrestag der Auslösung des Ersten Weltkrieges durch das kaiserlich-imperialistische Deutschland. Mit seiner Behauptung, die beteiligten Mächte Europas seien gewissermaßen „schlafwandlerisch“, versehentlich und ungewollt auf die Schlachtfelder gezogen, sorgte der Australier Christopher Clark für Furore. Dafür wurde er von den Medien des deutschen Kapitals ob seiner „Objektivität“ gepriesen und erhielt überdies auch noch eine qualitativ miserable TV-Serie über die (geklitterte) deutsche Geschichte zugeschanzt. Es war eine Darbietung mit VW-Cabrio inmitten von Burgen, Zwergen und putzigen Anekdoten.

Inzwischen wird auch Bismarck wieder mit neuen Denkmälern als „Modernisierer des doch insgesamt recht fortschrittlichen Kaiserreichs“ glorifiziert. Überdies sollen die deutschen Kolonien „weitaus besser“ als die der anderen Unterdrückerstaaten gewesen sein, da man bis 1918 nur investiert und keinerlei Gewinn abgeschöpft habe. Der Kommandeur der Kolonialtruppen, General von Lettow-Vorbeck wird als „widerständiger Held Ostafrikas“ im Ersten Weltkrieg vorgeführt, dem Ehre gebühre.

Doch all das war nur die Vorspeise dessen, was 2015 unter Mißbrauch des theologischen Generalgebots der Vergebung aller Sünden bei hochgehängtem „Mitgefühl“ gegenüber den Angehörigen und dem Leid deutscher Kriegsopfer serviert werden sollte. Dafür stellte man die These auf: „Das Leid des Krieges summieren, statt es auseinanderzudividieren und gegeneinander aufzurechnen!“

Jeder ethischen oder völker- und menschenrechtlichen Bewertung hohnsprechend werden auf diese Weise Täter und Opfer gleichgesetzt. So sollen imperialistische Memoriale für Genozid-Verbrechen in Afrika und China „weiter Achtung genießen“.

Auch entsprechende Straßennamen müssen nach dieser Vorstellung erhalten bleiben, „weil wir sonst unsere Geschichte negieren“. Das sei zwingende Voraussetzung für Diskussion und Aufarbeitung. Naziverbrecher, die nach 1945 in der BRD erneut zu Amt und Würden gelangten, will man „mit den Brüchen ihrer Biographien differenziert gewertet“ sehen, statt sie „pauschal zu verdammen“. Sonst würde „Geschichte mit dem Radiergummi ausgelöscht“. Es gehe um „Versöhnung statt selbstgerechter Verurteilung von Menschen, die dem Zeitgeist gemäß“ gehandelt hätten. Das treffe auch auf KZ-Mörder zu.

Dazu paßt es, wenn in der ARD-Sendung „Buchenwald – Heldenmythos und Wirklichkeit“ der Interpretation zufolge „endlich mit SED-Propagandamärchen aufgeräumt“ wird: Die U.S. Army habe das Lager befreit, das „ohne ernsten Widerstand in die Hände kommunistischer Funktionshäftlinge“ gefallen sei, heißt es zynisch. Diese hätten es sich zuvor „bei Kaffee und Kuchen und allerlei Privilegien als Hilfsmannschaften der SS im Lager gemütlich gemacht“.

Am 5. Mai holte Hubertus Knabe dann in der „Phoenix-Runde“ zum großen Schlag gegen den „Mythos vom Tag der Befreiung“ aus: Wie zuvor bereits die Berufsrevanchistin Erika Steinbach, verkündete auch er, die „eigentliche Befreiung“ sei für die Leute im Osten erst mit der „Wende“ und dem Anschluß der DDR an die BRD erfolgt. Zur fröhlichen Rückkehr der Nazis und der seit 1947 gezielt erfolgten deutschen Spaltung unter Fortsetzung des „Kampfes gegen den Bolschewismus“ befragt, empörte sich Herr Knabe über die Braunbücher zur Entlarvung von Kriegs- und Naziverbrechern in BRD-Spitzenpositionen sowie andere Enthüllungen der DDR. Deren Antifaschismus sei lediglich „kommunistische Propaganda“ gewesen, um „die Fortsetzung der Diktatur unter Stalin zu kaschieren“. Statt zu entnazifizieren, wie es die BRD strikt getan habe, hätte man Tausende „unschuldiger Bürger in Sonderlagern verhungern lassen“. Zugleich habe die DDR auf allen Verwaltungsebenen selbst Nazis verwendet. Andere Hetzer behaupten, die Politik der SED sei in Anbetracht der Unterstützung von Palästinensern oder Syrern antisemitisch gewesen. Das Fazit all dessen: Deutschland habe überhaupt keinen Grund, den Sieg über den Faschismus zu feiern. Die meisten Deutschen hätten sich 1945 als Besiegte gefühlt. Sie seien einer „Siegerjustiz“ mit fremdem Recht ausgeliefert gewesen, betonen BRD-Pseudohistoriker verschiedener Kategorien. Sie fordern die „Berücksichtigung der subjektiven Situation“ von Nazis. Nur wer gegen damals geltendes (faschistisches) Recht verstoßen habe, sei 1945 und später „rechtsgrundsätzlich“ zu belangen gewesen. Dementsprechend verfuhr man bekanntlich in der BRD mit Gestapo-Leuten, Polizisten, Wehrmachtsangehörigen hoher Ränge sowie mit Richtern und Staatsanwälten der Faschisten.

Selbst bei Gedenkfeiern in einstigen Konzentrationslagern verkündeten Redner: „Gerade die unselige deutsche Vergangenheit“ verpflichte die BRD, heute „Verantwortung für Recht und Demokratie auch weltweit zu übernehmen“. Im Westen schloß die antikommunistische Wehrbereitschaft rasch eine Lücke. Man sah sich gefordert, das „Reich des Bösen“ im Osten zu bekämpfen. NATO-Generale mit hochrangiger Wehrmachtsvergangenheit betrachteten ihre Schandtaten im durch Hitler vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg dadurch als „voll gerechtfertigt“. Der „Kampf des Führers gegen den Bolschewismus“ sei „eine legitime Leistung“ gewesen, die weiter gefragt bleibe.

Ebenso verhält es sich heute mit der Kriegshetze gegen Rußland und den „Putinismus“. Dieses alt-neue Geschichtsbild liefert auch die Legitimation für den „Krieg gegen den Terror“. Entsprechende „Sicherheitsmaßnahmen“ aber können nur dann wirksam durchgesetzt werden, wenn deren demokratiefeindlicher Charakter in der Bevölkerung Akzeptanz findet. Daß die Bürger den allseitigen Überwachungsstaat brauchen, wird ihnen mit reaktionärer Angstpropaganda „vermittelt“. Restaurative Geschichtslügen werden nicht zuletzt deshalb aufgetischt, um den Eindruck zu vermitteln, man habe bei all dem eine „weiße Weste“.