RotFuchs 230 – März 2017

Horst Sindermanns „Fürstentum“

Helmut Baumgarten

Im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichte die „Mitteldeutsche Zeitung“ einen auf Dummenfang zielenden Artikel von Detlef Färber, der zum Kommentieren Anlaß gibt. Die Rede ist von Horst Sindermann und dem „Erfinder des Schutzwalls“. Das Adjektiv antifaschistisch ließ der Autor vorsichtshalber weg. Dann folgt: „Der langjährige hallesche Bezirksfürst war auch Chefpropagandist der DDR …“

Sieh an, da habe ich also einen Großteil meines Lebens in einem Fürstentum gelebt und ahnte nichts davon! Da stimmt doch was nicht. Dank der ARD-Reihe „Brisant“ können wir täglich bestaunen, wie der Adel lebt – und Sindermann soll in diesen erlauchten Kreis passen? Das geht doch aber schon deshalb nicht, weil er das von und zu nicht in seinem Namen trug. Und wo residierte er? Den Sitz Kardinal Albrechts, seine Residenz und seine Burg kenne ich. Also suche ich die von Horst Sindermann und finde sie in einem alten Gebäude eines Konzerns in der Leninallee, 4. Stock. Vor seiner Bürotür eine Sekretärin, sein Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Sitzungstisch mit 24 Stühlen sowie einen Nebenraum zum Umkleiden und Waschen. Das war alles. Da müßte doch noch mehr dazugehören.

Also hat er bestimmt, dachte ich, ein schönes Schloß mit Park. Was ich fand, war ein Einfamilienhaus mit Vorgarten am Saaleufer. Etwas wenig für einen Fürsten, oder? Und was ist mit seiner goldenen Krone? Bestimmt trug er sie nachts im Bett, denn tagsüber hatte er ja immer einen Hut auf. Na ja, soweit reichten die Recherchen eines Detlef Färber wohl nicht.

Aber wodurch unterschied sich sein „Fürstentum“ von denen in der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“?

Arbeitslosigkeit war nur aus den Schulbüchern bekannt. Wohnungsnot gab es als Folge des Krieges, aber keine Obdachlosen. Bettler auf den Straßen und Plätzen waren verschwunden. Gleicher Lohn von Mann und Frau bei gleicher Qualifikation und Leistung waren gesetzlich gesichert. In Halle wurde für die Chemiearbeiter eine ganze Wohnstadt mit allen sozialen und kulturellen Einrichtungen aus dem Boden gestampft. Und immer war Horst Sindermann vor Ort und kümmerte sich um die Sorgen der Menschen, sicherte Hilfe zu, wo es möglich war.

Seine besondere Aufmerksamkeit galt der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. In der Helene-Lange-Schule wurden Kindergärtnerinnen ausgebildet, damit in den Kinderkrippen und Kindergärten Fachkräfte für die Bildung und Erziehung der Kinder vorhanden waren. Auf der Peißnitzinsel entstand das Pionierhaus, es gab ein Planetarium und und und …

Es war also ein etwas eigenartiges Fürstentum, welches in kein Schema des Adels paßte. Denn in welchem Land stellt der Adel freiwillig seine Paläste und Schlösser zur Verfügung, damit sie für das Volk, für Internate, Wohnheime, Schulen, Pflegeheime genutzt werden? In welchem Fürstentum ist die Schulbildung für alle Kinder kostenlos, wo werden alle Kranken kostenlos behandelt?

Und außerdem: Wenn Sindermann ein Fürst war, was waren dann seine Vorgesetzten? Könige oder gar Kaiser?

Auffällig ist, daß die Hatz auf die DDR in den letzten Monaten wieder auf Hochtouren lief. Warum? Offensichtlich sieht man sich gezwungen, von den „Entdeckungen“ über die braune BRD-Vergangenheit, die über Jahrzehnte unter dem Deckel gehalten wurde, schleunigst abzulenken, denn jeder denkende Mensch muß sich doch die Frage stellen, warum man erst nach 70 Jahren über die Nazivergangenheit nachzudenken beginnt.