RotFuchs 230 – März 2017

Ist Angst ein schlechter Ratgeber?

Theodor Weißenborn

Seit Jahrzehnten beobachte ich folgendes: Spitzenpolitiker und Konzernbosse treffen sich zu „vertraulichen Gesprächen“ , und ich ahne schon, daß es dabei um Entscheidungen von großer Tragweite geht, um Projekte, die so große – bekannte oder auch unbekannte – Gefahren in sich bergen, daß sie die Existenz Tausender Menschen, ja womöglich ganzer Völker oder der gesamten Menschheit bedrohen. Dabei kann es um alles Mögliche gehen, wovon Kapitalisten und Imperialisten sich Profit und Macht versprechen. Zum Beispiel um den Bau von Aluminiumfabriken in Indien, welche Gifte freisetzen, die schwere und schwerste Krankheiten erzeugen, so daß Tausende Arbeiter qualvoll dahinsiechen und sterben. Verantwortlich hierfür war und ist in diesem Fall Josef Ackermann, der ehemalige Chef der Deutschen Bank, den Angela Merkel kurz zuvor zu einem (natürlich) „vertraulichen“ Gespräch empfangen hatte. Es kann sich aber auch um den Export schwerer Waffen in Krisengebiete, etwa nach Saudi-Arabien, handeln, die zwecks Irreführung der Öffentlichkeit auf Umwegen über friedliche Drittländer geliefert oder als Teilstücke versandt werden, die der Empfänger dann vor Ort selbst zusammenbauen kann. Auch um die Stationierung atomarer Raketen kann es gehen oder (selbst nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima!) um die Errichtung neuer Kernkraftwerke.

Natürlich lassen solche Projekte sich auf die Dauer nicht verheimlichen. Früher oder später sickert an einer undichten Stelle etwas durch, oder investigative Journalisten decken die Sache auf – dann ist die Öffentlichkeit alarmiert, und wache kritische Geister wie Robert Jungk oder Peter Scholl-Latour treten auf den Plan, warnen und mahnen und gefährden die beabsichtigte weitere Kumulation von Macht und Kapital. Dann setzt die Gegenpropaganda der Planer und Macher ein, die nicht einsehen wollen, was lange vor unserer Zeitrechnung schon der chinesische Philosoph Laotse wußte: nämlich daß Weisheit nicht nur im Tun, sondern mitunter mehr noch im Unterlassen bestehen kann. Aber da es den Herrschenden nicht um Weisheit, sondern um Geld geht, spielen moralische Kategorien für sie keine Rolle. Die Kritiker werden beschimpft, verhöhnt und verlacht und müssen sich regelmäßig den Satz anhören: „Angst ist ein schlechter Ratgeber.“

Aber stimmt dieser Satz überhaupt? Schauen wir doch einmal genauer hin! Einfach bejahen oder verneinen läßt sich der Satz nicht, dazu ist er zu allgemein. Es bedarf also der Differenzierung, das heißt, wir müssen herausfinden, welche höchst unterschiedlichen Formen und Arten von Ängsten unter dem Oberbegriff Angst zusammengefaßt sind. Da wäre zunächst die panische, eine tatsächlich höchst gefährliche Angst zu nennen, dann alle psychotischen Ängste aus den Formenkreisen der Schizophrenien und Zyklothymien (die Paranoia oder Verfolgungsangst, die Verarmungs- oder Erkrankungsangst – Ängste, die oft mit Depression einhergehen, dann die neurotischen Ängste (Phobien) wie z. B. die Klaustrophobie (Angst vor engen Räumen), die Agoraphobie (Platzangst), Anachrophobie (Angst vor Spinnen), Höhenangst und viele andere Ängste bis hin zur Xenophobie (Fremdenangst) und schließlich die wohlbegründeten Realängste, auf die eher das Wort Furcht zutrifft.

Wie sind diese unterschiedlichen Ängste zu bewerten? Panische Angst tritt am ehesten da auf, wo viele Menschen auf engem Raum zusammengepfercht sind: in Fußballstadien, Bierzelten, Diskotheken und an ähnlichen Orten, wo dann viele bei Gefahr nur noch sich selbst zu retten suchen und wo die Schwächeren zu Boden getreten und totgetrampelt werden. Gegen solche Panikausbrüche hilft wohl am besten eine klug vorausschauende Organisation: vor allem die Bereitstellung ausreichend vieler Fluchtwege, die dann auch frei gehalten werden müssen. (Man denke an die Panikkatastrophe in Duisburg, bei der mehr als 20 Menschen zu Tode kamen, und an die hilflosen Kommentare der Veranstalter, deren einziges Interesse die Schuldabweisung war!)

Die psychotischen Ängste sind sachlich zumeist unbegründet. Sie sind Krankheitssymptome, beruhen auf Wahnvorstellungen und sind der Therapie zuzuführen. Ihre gefährlichste Form ist die Paranoia, da der von ihr Betroffene nicht nur suizidgefährdet ist, sondern auch andere Menschen verletzen und töten kann.

Harmloser erscheinen daneben die Phobien, die oft erst dann der Therapie bedürfen, wenn sie als schwerere oder leichtere Handicaps den Betroffenen an normalen Lebensvollzügen hindern, etwa wenn ein im 14. Stockwerk eines Hochhauses wohnender Klaustrophobiker es nicht wagt, den Aufzug zu benutzen. Gefährlicher, weil zum Fremdenhaß bis hin zur Fremdenverfolgung tendierend, ist da schon die Xenophobie, die von Demagogen aller Couleur für deren mitunter menschen­verachtend-kriminelle Ziele ausgenutzt werden kann (siehe die Pegida-Bewegung).

Bleiben schließlich die Realängste, wohlbegründete Befürchtungen realer Gefahren, seien es nun Naturkatastrophen oder von macht- und profitgeilen Politikern oder Wirtschaftsbossen verursachte Kriege, in denen es nicht um Menschenrechte, sondern um Öl geht. Diese Realängste sind wie Warnleuchten oder Warnsirenen, die man nicht abschalten darf, sondern deren Rufe man beachten muß, um auf Mittel zu sinnen, wie der Gefahr am besten zu begegnen ist. Diese Realängste lasse ich mir nicht nehmen. Ich verteidige sie und preise sie als mögliche Lebensretter und höre auf sie wie auf die Stimmen guter Freunde, die auf mein Wohl bedacht sind.