RotFuchs 229 – Februar 2017

Ist der Rechtsstaat für alle da?

RotFuchs-Redaktion

Mit dem Rechtsstaat ist es ganz einfach

Nur wenn er für alle Menschen in der Gesellschaft gilt, kann seine Existenz behauptet werden. Die Faschisten hatten ihn seinerzeit zu Beginn ihrer Herrschaft dadurch ausgehöhlt, daß sie Personengruppen definierten, für die das Recht nicht oder eingeschränkt galt. Nicht, daß Rechtsbrecher verfolgt und nach den Gesetzen abgeurteilt werden, kennzeichnet einen Rechtsstaat als solchen, das taten auch die Nazis. Er offenbart sich in dieser Qualität lediglich darin, wie er zu seinen Feinden steht. Am Umgang mit den IM (inoffizielle Mitarbeiter) der Staatssicherheit müßte er sich bewähren.

Daß der Rechtsstaat in wesentlichen Parametern genau hier ausgeschaltet ist und bleibt, macht in Deutschland ein Vierteljahrhundert nach dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz ein Fall in Potsdam deutlich. Dort wurde dieser Tage ein Rechtsmediziner in hoher Position von seiner Dienstherrin, der Gesundheitsministerin Diana Golze (Die Linke), fristlos gekündigt. Er hatte Anfang der 90er Jahre eine Beschäftigung als IM verschwiegen, machte Karriere und bewarb sich ein Vierteljahrhundert später um einen Chefposten. Dabei wurde ein „Treffer“ bei der Unterlagenbehörde erzielt. 2016 damit konfrontiert, blieb er bei seiner Darstellung und konnte durch eine Verpflichtungserklärung und den Beweis, daß er sich insgesamt achtmal mit einem Führungsoffizier getroffen hat, überführt werden. Daß Ministerin Golze hier nichts als die Kündigung sah, zeigt, wieviel an rechtsstaatlichem Denken inzwischen aufgegeben worden ist. Diese Reaktion steht in keinem Verhältnis zum Delikt. …

Die IM sind diejenigen, die sich auf wesentliche Grundsätze des Rechtstaats nicht berufen können, weil sie ausersehen sind, einem teuflisch-endlosen Rachebedürfnis zu dienen. Warum drängt sich dieses Urteil auf? An ihren Rechten gehindert werden dürfen im Rechtsstaat nur verurteilte Straftäter. IM sind das aber nicht. Zweitens müßte eine rechtsstaatliche Betrachtung einbeziehen, daß jeder Mensch das Recht besitzt, den Geheimdienst seines Landes zu unterstützen … Was kann man einem IM vorwerfen, was man nicht jedem V-Mann der Welt vorwerfen könnte? Wenn Bürger von Rechtsstaaten, die sich durch die Weltgeschichte gemetzelt haben, wie die USA, Großbritannien oder Frankreich, dieses Recht besaßen, wenn jeder Deutsche heute dieses Recht besitzt, dann auch ein DDR-Bürger.

Rechtsstaat heißt, dem inzwischen verflossenen Zeitraum und zwischenzeitlichen Verhalten der Personen ein Gewicht zu geben. IM dagegen werden Jahrzehnte später behandelt, als sei die Tinte auf ihrem letzten Bericht noch nicht trocken. Rechtsstaat heißt, Nichtigkeiten und Geringfügigkeiten als solche zu behandeln. Es gibt ferner das Vergessensgebot. Verbrecher können es für sich reklamieren. IM nicht. Rache darf in Deutschland keine Rechtsquelle sein, und doch ist sie hier die Grundlage für staatliches Vorgehen. Mit der Art und Weise der „Stasi“-Verfolgungen wird die Axt an die Wurzel des Rechtsstaats gelegt.

Matthias Krauß, „junge Welt“, 5. Dezember 2016

Aufregung um einen neuen Staatssekretär in Berlin

Die neue Berliner Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, sorgte für einen ersten großen „Aufreger“: Lompscher nominierte den 46 Jahre alten Andrej Holm, einen bekannten, parteilosen Stadtsoziologen, Experten für Fragen der Stadtentwicklung und Gentrifizierung, der sich engagiert für sozialen Wohnungsbau und bezahlbares Wohnen einsetzt, zum Staatssekretär für Wohnen. Und entfachte damit einen Sturm der Entrüstung, vor allem bei CDU, AfD und FDP.

Holm, der aus einer kommunistischen Familie kommt, hatte sich bereits in jungen Jahren bereit erklärt, Offizier und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit zu werden. Nach seinem Abitur begann er, gerade 18 Jahre alt, im September 1989 eine Grundausbildung im zum Ministerium für Staatssicherheit gehörenden Wachregiment Feliks Dzierzynski in Berlin und war kurz im Ministerium tätig. Nach seinem Studium der Stadtsoziologie in den 90er Jahren arbeitete er an verschiedenen Hochschulen als wissenschaftlicher Mitarbeiter – an der Humboldt-Universität seit 2011 – und war politisch u. a. in stadtpolitischen Bewegungen aktiv. 2007 war Holm wegen des völlig absurden Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§129a StGB) einige Zeit in Haft.

Seine Nominierung als Staatssekretär eröffnet die Möglichkeit, daß vielleicht tatsächlich Bewegung in Wohnungsbau und -markt kommt, wenn er sich – im Amt – denn nicht opportunistisch verhält. Der ,Tagesspiegel‘ kommentierte jedenfalls: ,Ein Gentrifizierungskritiker, ein linker Aktivist, ein Wissenschaftler ist er. Einer, der Hausbesetzung als effektives Mittel zur Schaffung von Sozialwohnungen preist, leerstehende Wohnungen zwangsbelegen will und mit umfangreichen Steuersubventionsprogrammen eine baupolitische Richtung unterstützt, die in der SPD kritisiert und in der Wohnungswirtschaft zu munteren Kontroversen führen wird. Hier liegt die Gefahr seiner Ernennung und nicht in seiner Stasi-Vergangenheit.‘

Nina Hager, „UZ“, 16. Dezember 2016

Die „Affäre“ Holm

Die „Affäre Holm“ stellt die Glaubwürdigkeit des neuen rot-rot-grünen Berliner Senats in Frage – so ähnlich kann man es in den letzten zwei Wochen in zahlreichen Artikeln der Berliner Lokalpresse lesen. Das ist richtig, wenn auch anders, als es die meisten Kommentatoren meinen. Denn ihre Glaubwürdigkeit würde die Koalition nicht verlieren, wenn sie an Holm festhielte, sondern wenn sie ihn fallen ließe. Abgesehen vom verständlichen Wunsch einflußreicher immobilienwirtschaftlicher Kreise und des dazugehörigen konservativen politischen Milieus gibt es dafür keinen Grund.

Jörg Boewe, „der Freitag“, 24. Dezember 2016