RotFuchs 229 – Februar 2017

Ist Marx eigentlich noch aktuell?

Horst Neumann

Auch bei den Linken ist nicht selten zu hören – Marx, das war doch vor mehr als 150 Jahren, der ist doch längst überholt. Von wem eigentlich? Eine Frage, die ich gut finde. Denn seit Marx und Engels das „Kommunistische Manifest“ und „Das Kapital“ veröffentlichten, haben Tausende von bürgerlichen Wissenschaftlern versucht, das in diesen Werken Dargelegte zu widerlegen.

Nach dem Sieg der Konterrevolution fühlten sich die Widerleger bestätigt. Doch als Ernüchterung einsetzte, war selbst von Nichtmarxisten zu hören: „Was Marx über den Kapitalismus geschrieben hat, ist richtig, in der Realität allerdings noch viel schlimmer.“

Warum bleibt Marx aktuell? Der Marxismus ist eine Wissenschaft, die sich, wie andere auch, weiterentwickelt, deren Grundaussagen aber bleiben. Ein Beispiel aus der Physik: Die moderne Quantentheorie war eine qualitative Weiterentwicklung der Physik, deshalb wurden die Newtonschen Axiome aber nicht ungültig. Was hinzu­kommt, sind Erscheinungsformen, Präzisierungen, Erweiterungen. Lenin konnte auf der marxistischen Grundlage schon detaillierter die imperialistische Entwicklungs­stufe des Kapitalismus analysieren und daraus Schlußfolgerungen für die zu seiner Zeit aktuellen Klassenkämpfe ableiten. Seine theoretischen Erweiterungen und praktischen Erfahrungen bereicherten die marxistischen Grunderkenntnisse in großem Umfang, stellten sie aber nie in Frage.

Auch der Kapitalismus der Gegenwart unterscheidet sich in seinen Erscheinungs­formen grundsätzlich von dem zu Marx’ Zeiten. Anders als bei Marx werden heute durch die Banken Geschäfte mit virtuellen Werten (Wertpapieren) gemacht, aber nur als Mittel, um damit staatliche und kommunale Werte zu eruieren und Zinserträge über Generationen zu sichern. Die Schere zwischen Armut und Reichtum klafft heute so weit auseinander, wie es sich Marx nicht hätte vorstellen können. Die uneinge­schränkte Gier nach Profit bleibt als Triebkraft systembestimmend. Das Grundprinzip der Bereicherung ist gleich geblieben.

Als Betriebsgeheimnis des Kapitalismus benannte Marx die private Aneignung der gesellschaftlichen Arbeitsergebnisse, heute erweitert durch die Aneignung aller für das Leben der Gemeinschaft notwendigen Bedingungen, einschließlich des Trinkwassers.

Die wissenschaftliche Leistung von Marx und Engels besteht nicht vorrangig in der Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Sie entdeckten auf dieser Grundlage aber die Entwicklungs- bzw. Bewegungsgesetze der menschlichen Gesellschaft, ausgehend vom Heraustreten des Menschen aus dem Tierreich durch Arbeit und einer fortschreitenden Arbeitsteilung. Diese führt zu sich ablösenden Gesellschaftsformationen mit jeweils gegensätzlichen Klassen bis zu einer klassenlosen Gesellschaft. Die Klassenzuordnung erfolgt dabei in Eigentümer von Produktionsmitteln und Nichteigentümer und damit in Besitzende = Herrschende und Abhängige. Auch wenn sich die Zusammensetzung der Klassen verändert, ändert sich an der Zuordnung nichts. Viele sich der Mittelschicht zugehörig fühlende sind objektiv, also unabhängig von ihrem Wollen, der Klasse der Lohnabhängigen zugeordnet, selbst Wissenschaftler.

Marx kennzeichnet die Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen. Er hat dem Proletariat den Ausweg aus der geistigen Sklaverei gewiesen, in der alle unterdrückten Klassen bisher ihr Leben fristeten. Sie werden immer einfältige Opfer von Betrug und Selbstbetrug sein, solange sie nicht lernen, hinter allen möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klasse zu suchen.

Klassenkampf wird auch heute geführt, von der herrschenden Klasse, ungebremst und in brutalster Form, weil die ausgebeutete Klasse zur Zeit insgesamt unorganisiert ist und sich zu wenig wehrt.

An den Folgen der Globalisierung, der anscheinend uneingeschränkten Macht­ausbreitung, zeigt sich trotzdem der Niedergang des Imperialismus. Der geförderte Zerfall der Peripherie wirkt sich zunehmend in Richtung Zentrum aus. Besonders der afrikanischen Bevölkerung werden die Lebensgrundlagen entzogen. Die Folgen der Globalisierung machen deutlich, wie überlebensnotwendig die Überwindung des Kapitalismus ist.

Der von Marx als Triebkraft der Entwicklung benannte Widerspruch zwischen Produktivkräften und diesen nicht mehr entsprechenden Produktionsverhältnissen drängt zu einer Lösung. Marx hat diesen Prozeß als unausweichlich bezeichnet, aber keine Zeitvoraussagen gemacht und nicht behauptet, daß er gradlinig verläuft. Lenin warnte vor möglichen Rückschlägen, deren Ursache er vor allem in nicht ausreichender Qualität der führenden Partei sah, wenn sie es nicht versteht, die Massen mitzunehmen und ständige Produktivitätsverbesserungen zu organisieren.

Die im dialektischen Materialismus benannten Widersprüche als Triebkraft der Entwicklung gelten weiterhin. Neben dem Grundwiderspruch die unterschiedlichen Widersprüche aufzuzeigen und aus der Analyse die Schlußfolgerungen für den aktuellen Klassenkampf abzuleiten, hat besonders Lenin meisterhaft verstanden und praktiziert. Die Fähigkeit, das Erreichte, die Fehler und die Kampfbedingungen ständig zu analysieren, zeichnete auch Fidel Castro aus und ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg der kubanischen Revolution. Er hat auch die Engelssche Erkenntnis immer beherzigt: „Alles, was die Massen bewegt, muß erst durch ihren Kopf hindurch.“ Führungskräfte der anderen sozialistischen Staaten haben vor allem in den 80er Jahren diese Lehren sträflich mißachtet. Es wurde zu der Zeit mehr über den Marxismus geredet als nach ihm gehandelt.

Das betrifft aber auch Führungen großer kommunistischer Parteien im kapitalistischen Teil Europas. Bereits in den 70er Jahren wendeten sich die „Eurokommunisten“ vom Marxismus ab. Hier wurde der Grundstein gelegt für den Niedergang dieser starken gesellschaftlichen Kräfte in Frankreich, Spanien und Italien, der durch den Zusammen­bruch der sozialistischen Staaten einen weiteren Schub erhielt, obwohl es keine direkte Abhängigkeit gab. Ihre Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verloren diese Parteien vor allem durch Anpassung und ihr zeitweises Mitregieren nach 1990. Hier wurden Grundsätze des Klassenkampfs einfach negiert.

Für den, der in einer immer chaotischer scheinenden Welt den Durchblick behalten will, erweist sich der Marxismus-Leninismus nach wie vor als guter Kompaß. Man sollte gerade in schwierigem Gelände nicht auf ihn verzichten!