RotFuchs 235 – August 2017

Einstehen für das Wohl der Kinder – im Leben und im Tod

Janusz Korczak – Arzt, Wissenschaftler, Autor und Humanist

Marianne Walz

Janusz Korczak mit einigen seiner Schutzbefohlenen (1934)

Kinderrechte sind Menschenrechte – das erklärten bereits die frühen euro­päischen Aufklärer im 19. Jahrhun­dert. Das Credo „Erziehung vom Kinde aus“ bildete zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Kerngedanken der später so genannten Reformpäda­gogik. Der jüdisch-polnische Arzt, Autor und Erziehungswissenschaftler Janusz Korczak (1879–1942) hat dieses humanistische Ideal nicht allein theoretisch durchdrungen, publiziert und praktisch aktiv gelebt. Seine Liebe zu den Kindern schloß auch die letzte Konsequenz ein. Als das inmitten des jüdischen Ghettos im faschistisch besetzten Warschau gelegene, von Janusz Korczak geleitete Waisenhaus aufgelöst und 200 Kinder von dort nach dem Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden, begleitete er die Kleinen bis hinein in die Gaskammer. Er stand ihnen fürsorglich bei, besänftigte ihre Angst. Die Chance, sein eigenes Leben zu retten, vergab Korczak freiwillig. Seine heldenhafte Tat bleibt unvergessen. Im August jährt sie sich zum 75. Male.

Luxus kannte er ebenso wie Armut. Henryk Goldszmit wuchs als Sohn eines War­schauer Anwalts in materiellem und geistigem Wohlstand auf. Die Herkunft aus der weltoffen aufgeklärten Familie des jüdischen assimilierten Bürgertums verhalf dem Heranwachsenden zu einer vielseitigen, humanistisch geprägten Bildung. Infolge einer unheilbaren Erkrankung des Vaters verarmt, mußte Henryk dann weitgehend für sich selbst sorgen. Der Studierende versuchte sich schriftstellerisch unter dem Pseudonym Janusz Korczak – und hatte ab 1901 damit Erfolg. Den Künstlernamen behielt er fortan bei. Seine Einnahmen als Arzt und als Schriftsteller sowie auch sein Engagement als Betreuer setzte Janusz Korczak für Projekte zugunsten notleidender Arbeiterkinder ein, zum Beispiel für die Durchführung von Sommerferienlagern. Längst hatte er die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus, die sozialen Gegensätze als Hauptursachen für Kinderelend und -leid erkannt. Darüber sprechen sehr beredt seine Erzählungen „Kinder der Straße“ und „Kinder der Salons“. Korczak entwickelte pädagogische Ideen einer Erziehung zur Gerechtigkeit und entwarf Modelle zu ihrer Umsetzung. Wie viele bürgerliche Humanisten hing er der Idee an, daß die solidarische Gesellschaft von innen heraus reformerisch verwirklicht werden könne. Er glaubte, diesem edlen Ziel mit der Heranbildung von friedfertigen, vernunft­geleiteten, aufrechten Menschen näher zu kommen. Als sich ihm 1912 die Chance bot, die Leitung des jüdischen Waisenhauses in der Warschauer Krochmalnastraße zu übernehmen, ergriff er sie. Seine gutgehende Arztpraxis gab er auf, um sich ganz dem Engagement für die Kinder zu widmen. Denn daß Kinder unveräußerliche Rechte haben, war der Mittel- und Ausgangspunkt seiner erzieherischen Mühen, der theore­tischen wie der praktischen. Korczaks Erziehungsprogramm gründet auf dem „Recht des Kindes auf Achtung und Liebe“. Er führte diesen Grundsatz, seine Folgerungen sowie die Möglichkeiten der Verwirklichung in pädagogischen Fachtexten aus und publizierte sie, noch bevor 1924 die internationale Staatengemeinschaft eine erste Deklaration der Kinderrechte verabschiedete. Dreißig Jahre lang stand er dem Kinder­heim „Dom Sierot“ (Haus der Waisen), später zusätzlich einer weiteren Einrichtung mit Namen „Nasz Dom“ (Unser Haus) vor. Die jungen Bewohnerinnen und Bewohner übten Formen demokratischen Zusammenlebens in „Kinderparlamenten“, bestimmten mit beim Aufstellen von Gesetzen und Regelwerken, lernten Streitigkeiten gewaltfrei in Kameradschaftsgerichten beizulegen. Die erste Zeitung von Kindern für Kinder weltweit, „Maly Przeglad“ (Kleine Rundschau), hat Janusz Korczak 1926 initiiert – ein eigenes Instrument der Öffentlichkeitsarbeit, das die in der Einrichtung zusammen­lebenden Mädchen und Jungen zum Kommunizieren ihrer Angelegenheiten gebrau­chen lernten. Korczak gilt damit als ein erster Fachlehrer für Medienerziehung. Das zur damaligen Zeit neue Medium des Rundfunks nutzte er kreativ. Er gestaltete die bei den Hörern des polnischen Rundfunks beliebte Sendung „Radioplaudereien des alten Doktors“: Hörspiele, Reportagen und Lesungen.

Janusz Korczak und seine Mitarbeiterinnen stehen mit ihrer fortschrittlichen Erneu­erung der Pädagogik in einer Reihe mit Pionieren einer Erziehung zu Frieden, Solida­rität und Zusammenarbeit. Dazu gehörten neben Anton Semjonowitsch Makarenko (siehe RF März 2016) und Wassili Suchomlinski bürgerliche Pädagogen wie Maria Montessori oder Lawrence Kohlberg.

Der verbrecherische Überfall der faschistischen Wehrmacht auf Polen im September 1939, die Besetzung Warschaus und die Errichtung des Warschauer Ghettos bedeu­teten das Ende des „normalen“ Arbeitsalltags Janusz Korczaks – nicht jedoch seines humanistischen Engagements. Das jüdische Kinderheim „Dom Sierot“ siedelten die faschistischen Besatzer 1940 zwangsweise nach der im Ghetto gelegenen Sliska­straße um. Alle publizistischen Tätigkeiten, so auch die Arbeit im Rundfunk, waren Janusz Korczak ab jetzt verboten. Ab Mai 1942 legte er in täglichen Aufzeichnungen Zeugnis ab über die Arbeit mit den Kindern unter den grausamen Bedingungen des Ghetto-Alltags. Diese Ghetto-Tagebücher wurden gerettet und konnten nach dem Tod ihres Verfassers erscheinen. Anfang August deportierten die Faschisten die Bewoh­ner und Erzieher des „Dom Sierot“ in das Vernichtungslager Treblinka. Der Waisen­haus-Leiter wußte um die Konsequenz des gewaltsamen Transports als „Endlösung“. Die ihm angebotene Rettung lehnte er ab. Janusz Korczak und zahlreiche seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen begleiteten die rund 200 Kinder auf ihrem letzten Weg, beschützten sie vor der Todesangst. Wahrscheinlich war es der 5. August 1942, an dem Janusz Korczak zusammen mit den ihm anvertrauten Kindern ermordet wurde.

Buchtips

Hanna Mortkowicz-Olczakowa:
Janusz Korczak. Biographie
Gustav Kiepenheuer, Weimar 1961

Marek Jaworski:
Janusz Korczak. Aufopferungsvolle Liebe zum Kind
S. Hirzel, Leipzig 1983

Janusz Korczak:
Wie man ein Kind lieben soll
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967

Janusz Korczak:
Die Kinder zuerst. Aus den Schriften eines Pädagogen
Kinderbuchverlag, Berlin/DDR 1982

Janusz Korczak:
Verteidigt die Kinder!
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2001

Janusz Korczak:
König Hänschen I.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995

Janusz Korczak: König Hänschen I.