RotFuchs 231 – April 2017

Überlegungen für einen nächsten Anlauf

Lieber das Problem als diese Lösung?

Fritz Dittmar

Neulich vor einer Buchhandlung sah ich mir einen Ständer mit Postkarten an, auf denen mehr oder weniger geistvolle Sprüche standen, von der Preislage: „Fallen, wieder aufstehen, Krönchen geraderücken, weitergehen“. Na ja! Aber ein Spruch ließ mich herzlich lachen: „Wenn das die Lösung ist, möchte ich lieber das Problem zurückhaben.“ Nach einigem Nachdenken wurde mir klar, daß damit die Haltung zweier Generationen auf den Punkt gebracht wurde: die der „Achtundsechziger“ und ihrer Kinder. Ersteren war damals klar, daß die Probleme der Welt mit dem Kapitalismus zusammenhängen. Spricht man heute mit ihnen, bestätigt einem jeder auch nur halbwegs interessierte und nachdenkliche Mensch, daß die Probleme nicht gelöst sind, sondern sich in dem seither vergangenen halben Jahrhundert verschärft haben: das Elend der dritten Welt, die soziale Spaltung zwischen Prekariat und „Mittelschicht“ auf der einen und auf der anderen Seite der Millionäre und der Milliardäre, in deren Interesse die Politik gemacht wird, die Finanzkrisen, die Angst der „Mittelschicht“ vor dem erzwungenen Abstieg ins Prekariat, die Kriege und der Terror überall und die Gefahr noch größerer Kriege, die Krise der Umwelt mit Klimawandel, Artensterben, Umweltverschmutzung und Verschleuderung der letzten Energie- und Rohstoff­resourcen. Fast jeder wird einem zustimmen, daß bei all diesen Problemen eher weitere Verschlechterungen zu erwarten sind. Und daß das am Kapitalismus liegt, wird einem auch von vielen bestätigt.

Nun sollte man doch denken, diese Einsicht würde zu massenhaften Debatten führen, wie und wodurch die anerkannte Ursache dieser Krisen, der Kapitalismus, ersetzt werden könnte, wenn er sich schon nicht ändern läßt. Aber da kommt nicht viel: Viele meinen, es wäre individueller Beitrag genug, wenn sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten sozial engagieren, sich vegetarisch oder vegan ernähren, sich mit dem Fahrrad statt mit dem Auto bewegen und vielleicht sogar dann und wann auf eine Demo für die Umwelt oder für den Frieden gehen. Ich will solche Verhaltensweisen nicht kritisieren oder gar lächerlich machen. Aber ich meine, und viele sehen das auch ein, daß das für die Lösung der Krisen nicht ausreichen wird.  Und selbst die Idee, durch Wahlen fortschrittlicher und ökologisch engagierter Parteien eine Wende herbeizuführen, hat viel von ihrer Überzeugungskraft verloren, seit 1973 die frei gewählte chilenische Regierung durch einen blutigen Militärputsch mit massiver Unterstützung der USA gestürzt wurde, und vor gut einem Jahr in Griechenland die Syriza nach ihrem triumphalen Wahlsieg vor den „Institutionen“ zu Kreuze gekrochen ist.

Wenn einem nun nichts Wirksameres einfällt, läge es eigentlich nahe, sich in der Geschichte umzusehen, was es denn an ernsthaften Versuchen gegeben hat, die Krisen zusammen mit ihrer Ursache, dem Kapitalismus, zu überwinden. Ich denke, jedem ist klar, wovon ich spreche: Könnte vielleicht der Sozialismus, gar der Kommunismus die Lösung sein? Da kommen fast automatisch zwei Standardantworten:

  1. Dann doch lieber beim Kapitalismus bleiben!
    (Lieber das Problem als diese Lösung!)
  2. Die bisherigen Versuche sind alle gescheitert, wir brauchen also darüber nicht weiter zu diskutieren.

Zu 1) erst einmal eine moralische Wertung: Es ist verantwortungslos, an einem System festzuhalten, das offenbar unaufhaltsam auf die Katastrophe zusteuert. Wer von uns Kinder in die Welt gesetzt hat, hat eine Verantwortung übernommen. Er oder sie kann sich meiner Meinung nach nicht darauf zurückziehen, daß die finale Krise hoffentlich nicht mehr zu den eigenen Lebzeiten eintritt. Für einen selbst haben die eigenen Eltern diese Verantwortung übernommen und damit für uns ein Erbe begründet, das wir an die nächsten weiterzugeben haben. Es kommt nicht darauf an, ob die Herausforderungen schon immer ebensogroß waren wie heute für uns: Diese sind so, wie sie eben sind, und jede Generationen muß sich den ihren stellen. Ohne das zu tun, nutzen wir nicht die menschlichen Fähigkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Das sollte Resignation ausschließen und die Aufgabe stellen, ernsthaft und mit aller Kraft einen Ausweg aus der Krise zu suchen.

Dabei finde ich es erschreckend, wie einfach sich die meisten bereitfinden, das zu glauben, was sie nach dem Willen ihrer Oberen über den Kommunismus glauben sollen, selbst Menschen mit geschultem kritischem Verstand. Wer keinen besseren Vorschlag für die Lösung hat, ist nach meiner Meinung verpflichtet, heute in Zeiten des „Postfaktischen“ und der „Fake News“  noch einmal zu überprüfen, wieviel derartige Manipulationen schon lange die hierzulande verbreiteten Meinungen über den Kommunismus mit geprägt haben.

Sehen wir uns die Vorstellungen an, die sich Marx und Engels vom Kommunismus machten: Das sollte eine Gesellschaft sein, wo jeder, der es kann, arbeitet, um die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Das finde ich erst mal nicht schrecklich. Schon heute arbeiten alle, die kein Kapital besitzen – oder sie wünschen sich, man ließe sie arbeiten. Platz für Fragen nach dem Nutzen der eigenen Arbeit für die Gesellschaft bleibt da kaum.

Marx und Engels gingen davon aus, daß die Arbeit zum Wohl der Gesellschaft sich aus einer Last zum ersten Lebensbedürfnis wandeln würde. Darüber hinaus sollte sich jeder „nach seinen Bedürfnissen“ aus dem gemeinsam produzierten Reichtum versorgen können. Es ist schwer, sich das so vorzustellen, und auch Marx und Engels war klar, daß das eine lange Übergangsperiode voraussetzt, die sie Sozialismus nannten. Aber als zu erstrebendes Ziel scheint der Kommunismus mir nicht so schrecklich, daß ich demgegenüber lieber den Kapitalismus mit seinen Krisen und Unmenschlichkeiten behalten wollte. Das Ziel des Kommunismus erinnert mich an Heinrich Heine: „Wir wollen uns auf Erden schon das Himmelreich errichten.“

Aber wichen denn nun die Kommunisten vom Weg auf dieses Ziel hin ab? Und ab wann? Und wodurch? Jeder kennt die Schauergeschichten, die er hundertmal gehört hat. Aber wieviel von dem Goebbels zugeschriebenen Rat „Je größer eine Lüge ist, um so eher wird sie geglaubt. Sie muß nur oft genug wiederholt werden“ steckt darin?

Ich will nicht abstreiten, daß es in der Geschichte des „real existierenden Sozialismus“ auch schreckliche Ereignisse gegeben hat. Ich will nur die Frage aufwerfen, ob diese Schrecken dem Wesen des Sozialismus entstammten, oder bis zu welchem Grad sie als Akte der Notwehr zu begreifen und vielleicht zu verstehen sind. Und ich will auch die Frage stellen, warum Furchtbares in der Geschichte der „westlichen Demokratien“ nicht eine ebensolche Ablehnung der jeweiligen Systeme hervorruft.

Zu 2) Der „Realsozialismus“ in der Sowjetunion ist gescheitert. Aber mußte er das? Lag es an Geburtsfehlern oder an vermeidbaren Fehlern, die im Lauf seiner über siebzigjährigen Geschichte gemacht wurden? Gegen Geburtsfehler sprechen die Ergebnisse, die er erreicht hat:

  • Er hat den Angriffen der inneren Gegner und der Interventionstruppen aus
    14 kapitalistischen Ländern widerstanden und sie besiegt.
  • Er hat das Land mit zwei Fünfjahrplänen industrialisiert, in einem Ausmaß, für das die westlichen Länder 50 bis 100 Jahre gebraucht haben.
  • Er hat die Arbeitslosigkeit abgeschafft, was bis heute kein kapitalistisches Land erreicht hat.
  • Er hat das Land des Analphabetismus in ein kulturell hochstehendes Land verwandelt.
  • Er hat dem Angriff Nazideutschlands und seiner Vasallen standgehalten.
  • Er hat, mit unvorstellbaren Opfern (und mit einiger Hilfe der Alliierten), den Faschismus besiegt und die Welt vor dem Alptraum einer faschistischen Vorherrschaft in der Welt gerettet.
  • Er hat den Drohungen des neuen Gegners standgehalten, obwohl dieser lange allein die Atombombe hatte.
  • Er hat, durch sein Beispiel und seine Solidarität, geholfen den Kolonialismus zu beseitigen.

Nach dieser Aufzählung leuchtet mir die Behauptung nicht ein, daß er trotzdem zusammenbrechen mußte.