RotFuchs 236 – September 2017

Erinnerung an einen britischen Friedensaktivisten

Lord Bertrand Russell (1872–1970)

Prof. Dr. Horst Schneider

  • Common Sense and Nuclear Warfare
    George Allen and Unwin Ltd., London 1959
    (Vernunft und Atomkrieg. Desch, München 1959)
  • Fact and Fiction (Tatsache und Erfundenes)
    George Allen and Unwin Ltd., London 1961
  • Has Man a Future?
    George Allen and Unwin Ltd., London 1961
    (Hat der Mensch noch eine Zukunft? Kindler-Verlag, München 1963)
Lord Bertrand Russell (1872–1970)

Diese Bücher stammen von dem englischen Philosophen Bertrand Russell, Nobel­preisträger und Mitglied der britischen Royal Society. Die Gedanken, die Lord Russell in diesen Büchern äußert, beschäftigen sich mit der Grundfrage, die heute alle Men­schen bewegt: Wie kann der Atomkrieg verhindert und ein dauerhafter Friede gesi­chert werden? Die Antworten, die Bertrand Russell gibt, inspirieren Hunderttausende Menschen in den kapitalistischen Ländern zum entschlossenen Kampf für die Abrüs­tung.

Bertrand Russell geht von den furchtbaren Gefahren aus, die ein atomarer Weltkrieg über die ganze Menschheit bringen würde. Mit Fakten und Zahlen imperialistischer Politiker und Militärs beweist er den unvorstellbaren Vernichtungsgrad eines solchen Krieges, den die NATO-Generale vorbereiten. (Vernunft und Atomkrieg, S. 17 f.)

Er erklärte an vielen Stellen nachdrücklich, daß jetzt eine völlig neue Situation ent­standen ist, welche die Menschen zwingt, umzudenken und den Krieg als Mittel der Politik völlig auszuschließen.

„Es gibt gegen diesen irrsinnigen Wettlauf in den Tod nur ein Mittel: auf dem Absatz kehrtzumachen und statt in die totale Selbstvernichtung dem Leben und der Zukunft entgegengehen.“ (ebenda, S. 20)

Den Vorschlägen Russells für die Lösung der Abrüstungsfragen liegen drei Grund­thesen zugrunde:

  1. Der Atomkrieg ist ein Unglück für die gesamte Menschheit.
  2. Jeder örtliche Krieg kann zum Weltkrieg führen.
  3. Auch ein Krieg, der mit konventionellen Waffen beginnt, führt bei längerer Dauer zum Atomkrieg.

Daraus folgt, daß es für die Menschheit nur eine Alternative geben kann: Alle Kriege müssen aus dem Leben der Völker ausgeschaltet werden. Es ist unübersehbar, daß Lord Russell sich in Übereinstimmung mit der Zielsetzung der sowjetischen Abrüs­tungsvorschläge befindet, wie sie in der Präambel des in Genf vorgeschlagenen „Ver­trages über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger internationaler Kontrolle“ formuliert sind. Das war nicht immer so. Bertrand Russell vertrat zu dem Zeitpunkt, als die USA noch das Atombombenmonopol besaßen, den Standpunkt, daß man gegen den Kommunismus auch militärische Mittel einsetzen dürfe. Er gehört zu jenen bürgerlichen Intellektuellen und Politikern, die aus dem veränderten Kräftever­hältnis in der Welt die einzig mögliche Schlußfolgerung gezogen haben: Ein Aggres­sionskrieg gegen die Sowjetunion würde den Untergang der „Zivilisation“ bedeuten. Allein die friedliche Koexistenz bietet die vernünftige Grundlage für die Lösung aller lebenswichtigen Fragen der Völker und Staaten mit unterschiedlichen sozialen Systemen.

Diese Gedanken und Schlußfolgerungen des britischen Lords, die er in Artikeln und Reden leidenschaftlich verficht, besitzen besondere Bedeutung für jene bürgerlichen Kreise in Westdeutschland, die auch ihr „erstes und wichtigstes Interesse“ im Über­leben sehen. (Vernunft und Atomkrieg, S. 23)

Sicherlich ist es kein Zufall, daß die „Blätter für deutsche und internationale Politik“, ein Organ linksliberaler bürgerlicher Kreise, und „konkret“, ebenfalls eine links-orien­tierte Zeitschrift, Artikel von Russell veröffentlichen. Obwohl Russell die sozialen Wurzeln der Kriege nicht erkennt, obwohl er nicht frei ist von unberechtigten Vorbe­halten gegenüber der sowjetischen Außenpolitik, ist er doch auf empirischem Weg zu dem Schluß gelangt, daß es die imperialistischen Regierungen sind, die die Abrüs­tung sabotieren. Er verurteilt den „wilden Fanatismus“ der Kreuzzugsideologen des Westens, welche die „Auslöschung der menschlichen Rasse dem Sieg einer Ideologie vorziehen, die sie verabscheuen“ (ebenda, S. 51).

Russell wendet sich in leidenschaftlichen Worten gegen die Kriegspolitik der imperia­listischen Regierungen. Er klagt an, daß sie das Atomwettrüsten forcieren und alle Schritte zur Abrüstung, die die Sowjetunion vorschlägt, sabotieren. Er weist nach, daß die Politik der imperialistischen Regierungen zur Verelendung der Massen, zum Verfall der Moral und Ethik und zur Militarisierung des öffentlichen Lebens führt.

Die Ursache der aggressiven NATO-Politik sieht Russell allerdings nicht in ökonomi­schen und politischen Interessen imperialistischer Gruppen, sondern in „bestimmten menschlichen Leidenschaften“ (Has Man a Future? S. 48), von denen er besonders Stolz, Argwohn, Furcht und Ehrgeiz nennt. An Stelle dieser Leidenschaften will er den Geist der Verständigung und die menschliche Vernunft setzen. Russell macht eine Reihe von Vorschlägen, um die internationale Spannung zu mindern und zu konkreten Maßnahmen auf dem Wege zur allgemeinen Abrüstung zu gelangen. Er fordert, daß alle Staaten ihre Truppen aus anderen Ländern zurückziehen und die ausländischen Militärstützpunkte auflösen, daß England aus der NATO austritt, daß die Militärbünd­nisse aufgelöst und daß Produktion und Erprobung von Atomwaffen verboten werden.

Der hochbetagte Lord Russell inspiriert die Friedenskämpfer der kapitalistischen Län­der nicht nur durch seine Argumente und Vorschläge. Er übt vor allem durch seine persönliche Teilnahme an den Aktionen der Friedenskämpfer eine große Wirkung aus.

Er propagiert die Auffassung, daß jeder Mensch für das Schicksal aller mitverant­wortlich ist und daß insbesondere die Wissenschaftler die Pflicht haben, dafür zu sorgen, daß die Ergebnisse ihrer Arbeit nur zum Nutzen der Menschheit angewandt werden.

Er formulierte die Maxime, von der er sich leiten läßt, folgendermaßen:

„Wenn Ihnen Ihre Freunde und Kinder oder die großartigen Errungenschaften, zu denen sich die Menschen und Nationen aufgeschwungen haben, teuer sind, so ist es Ihre Pflicht, vielmehr Ihr Vorrecht, mit allen wirksamen Mitteln zu protestieren.“ (Fact and Fiction, S. 282)

Entsprechend dieser Maxime war Bertrand Russell Mitbegründer und Vorsitzender der britischen „Bewegung für atomare Abrüstung“ (Campaign for Nuclear Disarma­ment – CND), die der Initiator der Ostermärsche war und in England eine mächtige Bewegung gegen die Atomwaffenpolitik der britischen Regierung hervorgebracht hat. Jetzt leitet er das „Komitee der 100“, das den „zivilen Ungehorsam“ propagiert und sehr militante Kampfformen bei seinen Aktionen anwendet. Russell trat nicht nur als Redner auf, sondern war trotz seines hohen Alters auch Teilnehmer an „sitdowns“, Sitzstreiks, die das „Komitee der 100“ im Jahre 1961 wiederholt anwandte, um gegen die raketenbestückten amerikanischen U-Boote am Clyde, die Invasion westdeutscher Truppen in Wales und die US-Luftstützpunkte zu protestieren.

Wie sehr die Vertreter der NATO-Politik diese Aktionen fürchteten, ist daran zu erken­nen, daß sie dem 89jährigen Philosophen den Prozeß machen ließen und ihn ins Gefängnis sperrten. Allerdings hatte die Strafe nicht die von den Urhebern beabsich­tigte Wirkung. Die Popularität und die Zahl der Anhänger Russells, besonders unter der Jugend, wuchsen. Die Sitzstreiks am 9. Dezember 1961 vor den US-Stützpunkten, an denen Tausende teilnahmen (über 800 Teilnehmer wurden verhaftet!), sind ein eindrucksvoller Beweis dafür. Am 9. Dezember wurde die Form des Sitzstreiks auch im Ruhrgebiet vor der Kaserne einer britischen Raketeneinheit angewandt, und in­zwischen hat sich auch in Westdeutschland ein „Komitee der 100“ gebildet. Beson­ders bemerkenswert ist, daß Lord Russell in immer stärkerem Maße mit den anderen Friedensorganisationen und Friedenskräften zusammenarbeitet.

Das zeigte sich, als er im November 1961 dem Kongreß des Britischen Friedenskomi­tees ein Grußschreiben übersandte und bei seiner kürzlichen Rede vor Londoner Hafenarbeitern, in der er sie aufforderte, keine Arbeiten zu verrichten, die den Atom­kriegsvorbereitungen dienen. Durch seine Arbeiten und seine leidenschaftlichen Aktionen hilft Bertrand Russell, die Kräfte zu stärken, die den Kriegsbrandstiftern in den Arm fallen. Er gibt durch sein Beispiel auch eine Antwort auf die Frage „Hat der Mensch eine Zukunft?“

Der Mensch hat eine herrliche Zukunft, wenn er mit Verstand und Leidenschaft für sie kämpft. Der greise Philosoph glaubt, daß „der Mensch imstande ist, eine Welt wunder­barer Schönheit und ungewöhnlicher Großartigkeit“ zu gestalten, daß die „menschli­chen Beziehungen ebenso schön werden können wie lyrische Gedichte“ und daß „für den Menschen nichts unmöglich ist“. (Has Man a Future?)

Dem Manne, der für die edle Idee der Abrüstung und Völkerverständigung kämpft, entbieten alle friedliebenden Menschen der Welt zum 90. Geburtstag ihren Gruß und ihre Ehrerbietung, nicht zuletzt die Kräfte Deutschlands, die Lord Russell als ihren Bundesgenossen im Kampf für ein friedliches Deutschland betrachten dürfen.

„Deutsche Außenpolitik“ 5/1962; redaktionell bearbeitet

Wir empfehlen drei weitere Titel Bertrand Russells zu anderen Themen:

The Source of the Swastika. A Short History of Nazi War Crimes
Cassell & Company, London, 1954
(Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen, Volk und Welt, Berlin/DDR 1955)

Why I Am Not a Christian and Other Essays on Religion and Related Subjects
George Allen & Unwin, London 1957
(Warum ich kein Christ bin, Szczesny-Verlag, München 1963)

Das Vietnam-Tribunal oder Amerika vor Gericht
Rowohlt-Verlag, Reinbek 1968