RotFuchs 189 – Oktober 2013

Wie ein wegen Republikflucht Verurteilter zum „RotFuchs“ fand

Mario schüttet sein Herz aus

Mario Dittrich

Eure Zeitung habe ich bei meinem Freund Dietmar entdeckt. Der sagte eines Tages zu mir: „Lies doch mal diesen Artikel!“ Darin ging es um Religionen. Ich bin seiner Aufforderung gefolgt, habe mir dann den RF genauer angesehen und ihn von vorne bis hinten gelesen. Ich war beeindruckt. Die Zeitschrift spricht mir sehr aus dem Herzen, wobei ich einige kritische Anmerkungen zu machen hätte. Was mir bei manchen Artikeln oder auch in Leserbriefen auffällt, ist die einseitige Hervorhebung der guten Taten in der DDR, die auch ich nicht in Abrede stellen will. Doch viele vergessen, daß die äußerst niedrigen Preise für Grundnahrungsmittel, Wohnungsmieten und vieles andere die DDR teuer zu stehen kamen. Mir fällt da natürlich auch die Schrippe beim Ostbäcker für 5 Pfennige ein, die ebenfalls subventioniert werden mußte. Das Wichtigste war sehr billig zu haben, allerdings bei niedrigeren Löhnen als im Westen. Andere Produkte waren weit teurer.

Ich bin am 17. September 1963 in Ostberlin geboren. Meine Kindheit war kein Zuckerschlecken: der Vater Alkoholiker, die Mutter lust- und lieblos. Mein Vater hatte die Mutter beim Opa kennengelernt, der in Blankenburg bei Berlin ein Grundstück besaß. Als dann im August 1961 die Mauer gebaut wurde, mußte mein Vater einen westdeutschen Paß besitzen, um mit dem Motorrad ständig hin- und herpendeln zu können. 1965 wurde er in Westberlin festgenommen. In der Zeitung mit den vier großen Buchstaben stand dann etwas von einem „SSD-Agenten“.

Ich verbrachte mein Leben so weit so gut in der DDR. Der Schulalltag und die Jugendjahre verliefen ziemlich normal, sieht man davon ab, daß ich beim Lernen Schwierigkeiten hatte. Während Sport und Zeichnen meine Lieblingsfächer waren, stand ich in anderen Disziplinen nicht so gut. Zu Dreien und Vieren kamen bisweilen auch Fünfen.

Nach dem Verlassen der Schule erhielt ich sofort eine Lehrstelle. Die Ausbildung erfolgte bei WtB, wie der volkseigene Handelsbetrieb Waren täglicher Bedarf abgekürzt hieß. Die Arbeit war körperlich schwer, die Ausbildung dauerte zweieinhalb Jahre. Auch mein Facharbeiter-Alltag war durchaus kein Zuckerschlecken. Wir mußten per Hand Kiste für Kiste aus Waggons entladen oder Container vollstapeln. Ich erzähle das nur, weil ich einige Jahre für monatlich 475 Mark hart ran mußte.

Meine Kollegen waren Leute, die meist gerne einen über den Durst tranken. So wurde Ware im Suff mit einem Stapler zerstört, und wir frischgebackenen Facharbeiter mußten dann die Trümmer wegräumen. Ich wurde in die Heizung versetzt, nachdem ich mich im Betrieb darüber beschwert hatte, daß Betrunkene Schaden anrichten könnten, ohne daß etwas geschehe. In meiner Kaderakte stand: „Herr Dittrich schwärmt fürs kapitalistische System.“

Ehrlich gesagt: Manches, was ich damals erlebte, empfand ich als haarsträubend. So reifte 1983 in mir der Gedanke, nach Westberlin abzuhauen, wobei ich sogar das Risiko, als Grenzverletzer bei der Flucht erschossen zu werden, in Kauf nahm. Ich war in jener Zeit schon länger ohne Beschäftigung und stromerte sinnlos umher. Da versuchte ich, die Mauer in der Gegend Oderberger Straße zu überwinden. Ich wurde festgenommen und in das Gefängnis Rummelsburg gebracht, wo ich einen Monat in U-Haft saß. Das Urteil lautete auf anderthalb Jahre Freiheitsentzug mit Bewährung. Ich werde der DDR nie vergessen, daß sie mich auch jetzt nicht fallengelassen hat. Ich bekam Arbeit und ein Zuhause.

Mit den Jahren verschärften sich meine gesundheitlichen Probleme. Die von Geburt an deformierte Wirbelsäule war nicht belastbar. So arbeitete ich mal hier mal dort und erfreute mich an meinem Hobby – der Ölmalerei im Stil der Gründerzeit. Damals lernte ich meine Lebenspartnerin Ute kennen, was meine Stimmung merklich hob. Im Mai 1988 wurde ich zur NVA einberufen. Wegen meines Rückenleidens leistete ich Innendienst. Während meiner Grundausbildung fertigte ich allerhand Bilder und Zeichnungen an. Zu den von mir gewählten Motiven gehörten auch Landschaften. Ein Offizier, der sie sah, kommandierte mich kurzerhand ab. Das restliche Jahr verbrachte ich mit Malarbeiten in Speisesälen und anderen Objekten. Dann rückte die Entlassung heran, auf die ich mich sehr freute, zumal ich Vater werden sollte.

Am 27. Oktober 1989 wurde ich aus der NVA entlassen, kurze Zeit später fiel die Mauer. Wie nicht wenige andere war auch ich geradezu aus dem Häuschen. Die peinlichen Vorkommnisse an jenen Tagen möchte ich gar nicht erst erzählen. Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes eine rosarote Brille auf. Doch allmählich setzte die Ernüchterung ein.

Als mein Sohn etwa drei Jahre alt war, hatten wir ernste Probleme finanzieller Art. Mal war ich arbeitslos, mal hatte ich einen Putzjob. Eines Tages stellte meine Ute fest, daß sie vom Amt zuwenig Geld erhielt, da die Summe offenbar falsch berechnet worden war. Wutentbrannt rief ich bei einer Zeitung an und erzählte den Redakteuren den Fall. Sie schickten gleich zwei Reporter, die uns mit allen möglichen Fragen bestürmten. Irgendwann fiel von mir der Satz, Millionäre sollten sich doch lieber um arme Kinder kümmern. Die Reporter sind dann gegangen. An einem Februartag 1993 sahen wir unseren Sohn dann ganz groß auf der Titelseite des Blattes: „Eltern wollen dieses Kind verschenken“, lautete die Schlagzeile. Damit wurde eine Lawine losgetreten. Studios wie „Premiere“ und „Schreinemakers Live“ griffen die Sache begierig auf. Was damals in der Zeitung gelogen wurde, ging auf keine Kuhhaut. So sollte ich z. B. bei Schreinemakers jemandem Prügel angedroht haben. Kein Wort davon stimmte. Wir aber waren demgegenüber wehrlos. Das ist meine Erfahrung mit den Medien der BRD.

Seit fünf Jahren sind Ute und ich auseinander, unser Sohn ist jetzt bereits 23. Ich lebe von einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Wenn ich die Kosten für Miete, Strom, Telefon und Versicherung abziehe, bleibt mir nur ein Hartz-IV-Satz übrig. Ich besitze weder Handy noch Computer, bin also von der modernen Gesellschaft ausgeschlossen. Ich hatte bereits zwei Herzinfarkte und eine Bypass-Operation. In diesem System als kranker Rentner leben zu müssen, ist alles andere als lustig. Dennoch werde ich mir nichts antun.

Ja, ein menschenfreundlicher Sozialismus – das wäre etwas! Seid bitte so lieb und schickt mir jeden Monat den „RotFuchs“. Vielen Dank!