RotFuchs 209 – Juni 2015

Polens Ultra-Reaktionäre hängen einem alten Wunschtraum nach

Mit Hitler gegen Moskau

Dr. Bernhard Majorow

Antikommunismus/Antisowjetismus und Russophobie treiben im heutigen Polen erstaunliche Blüten. Scheinbar reicht es nicht, Volkspolen und die UdSSR zu verleugnen und das bürgerliche Zwischenkriegspolen ahistorisch zu glorifizieren. Auf deren Grundlage entstehen aber auch neue Geschichtsbilder, die im rein Spekulativen angesiedelt sind. Man sollte sie indes nicht leichtfertig abtun, weil sie eine eindeutige politische Stoßrichtung offenbaren und in bestimmten Kreisen auf lebhaftes Interesse stoßen. Bestandteil der bürgerlichen Geschichtsschreibung in Polen war schon immer das spekulative Element.

Die Hypothesen von Piotr Zychowicz in seinem 2012 erschienenen Bestseller „Der Ribbentrop-Beck-Pakt oder wie die Polen an der Seite des III. Reiches die Sowjetunion hätten besiegen können“ – das Buch nähert sich einer Millionenauflage – ist von besonders infamer Art.

Der noch recht junge Autor attackiert offen den nationalen Konsens in bezug auf die Bewertung des Zweiten Weltkrieges. Er stellt die Opfer und den Widerstandskampf der Polen als durch eine fatale Fehlentscheidung der letzten Vorkriegsregierung ausgelöste, demnach vermeidbare Entwicklung dar. Der Autor geht noch wesentlich weiter, indem er ein Bündnis mit den Hitlerfaschisten gegen die UdSSR als reale Alternative bezeichnet. Danach hätte Warschau die Hitler vor Moskau fehlenden Divisionen stellen können. Polen wären in diesem Falle nicht nur seine Ostgebiete erhalten geblieben – es wäre auch noch durch den Zugewinn der Ukraine erweitert worden. Nach der hypothetischen Zerschlagung der Sowjetunion – in den Augen von Zychowicz die größte denkbare historische Leistung in der polnischen Geschichte – hätte Warschau lediglich noch auf den Vorstoß der Westmächte warten müssen, um dann die weißpolnischen Waffen gegen Deutschland zu richten. Das Land an Weichsel und Bug – so die Fieberphantasien – wäre am Ende mit dem bekannten Gebietszuwachs auch im Westen siegreich aus dem Krieg hervorgegangen. Im Ergebnis dessen gäbe es heute – nach den Vorstellungen von Zychowicz – eine polnische Großmacht, deren Territorium sich von der Oder bis zum Dnepr und vom einstigen Königsberg fast bis vom Schwarzen Meer erstrecken würde.

Dieser chauvinistische Traum von einem Großpolen deckt sich übrigens mit den seit dem Untergang des polnischen Reiches im 18. Jahrhundert von der Mehrzahl der Landesbürger gehegten Wünschen und fällt auch heute auf fruchtbaren Boden. Denn ein nahezu vergleichbares Territorium – sieht man von den Westgebieten ab – besaß Polen ja schon im 17. Jahrhundert.

Demgegenüber hatten realistischer denkende bürgerliche Politiker, ja sogar Marschall Józef Piłsudski, die Gründe des seinerzeitigen Untergangs mehr oder weniger nüchtern analysiert und waren dabei zu anderen Ergebnissen gelangt. Das 1918 entstandene Polen verabschiedete sich 1921 von derart überzogenen Wunschvorstellungen, obwohl der Sowjetstaat zu jener Zeit weitaus schwächer als Putins heutiges Rußland war.

Zychowicz geht bei seiner Großmacht-Vision von wenig bekannten und durch die Geschichtswissenschaft weithin ignorierten Tatsachen eines durchaus ernstgemeinten Versuchs der deutschen Faschisten aus, Polen zu einem gemeinsamen Ritt gen Osten zu überreden. Mit Hilfe von den Nazis modernisierter polnischer Divisionen hätte nicht nur Moskau, sondern ein weitaus größeres Territorium erobert werden können, spekulierte man damals im Generalstab der Wehrmacht.

Der Bestseller-Autor vergißt allerdings, daß die Mehrzahl der Polen gegen „die Deutschen“ eingestellt und die prononciert antideutsche Nationaldemokratie die größte Oppositionspartei im Lande war. Gegen ihren Willen, den der Linken und der Bauernbewegung hätten das Regierungslager sowie Teile des hohen Klerus nichts ausrichten können. Ein zweiter Krieg gegen die „Russen“ – den ersten hatte Polen nur unter größten Anstrengungen und Opfern zwanzig Jahre zuvor gewonnen – wäre äußerst unpopulär gewesen. Überdies hätten sich Ukrainer und Belorussen in Ostpolen dem nicht nur mehrheitlich verweigert, sondern wären wie in den frühen 20er Jahren zum Partisanenkampf angetreten. Auch muß die Möglichkeit einer raschen Modernisierung des polnischen Heeres mit Hilfe der Deutschen Wehrmacht für illusorisch gehalten werden. Die schlecht ausgerüsteten Truppen hätten wie die deutschen Aggressoren unter dem Feuer der Roten Armee in Schlamm und eisiger Kälte gesteckt.

Eine völlige Fehlrechnung wäre der angebliche Schutz der in Polen lebenden Juden vor den Deutschen gewesen. Zychowicz unterschlägt den latenten und zum Teil sogar rabiaten Antisemitismus, der im Zwischenkriegspolen zu einer Reihe von Pogromen geführt hatte. Selbst nach der Befreiung brachten rechte „Unabhängigkeitskämpfer“ etwa 2000 überlebende Juden um. Außerdem war die „Endlösung der Judenfrage“ den Hitlerfaschisten so wichtig, daß sie im Falle einer Weigerung Warschaus sofort eine ihnen genehme Regierung etabliert hätten, wie das in Ungarn 1944 geschah.

Zychowicz behauptet, daß die polnischen Verluste bei einem Pakt mit Hitlerdeutschland weitaus geringer gewesen wären. Auch hierin dürfte er sich getäuscht haben. Die Opfer an der sowjetischen Front sowie im Kampf gegen ostpolnische, belorussische, ukrainische und russische Partisanen, aber auch bei einem Seitenwechsel durch Vernichtung antifaschistischer Polen und eine „Politik der verbrannten Erde“ wären vermutlich ungleich höher gewesen.

Zychowicz folgt einer als „prodeutsch“ bezeichneten Tendenz des Sympathisierens mit reaktionären Kräften in der BRD. Weiße Polen glauben, sich durch noch stärkere Anlehnung an die EU, in der Berlin den ersten Platz einnimmt und ihr früherer Premier Donald Tusk inzwischen eine maßgebliche Rolle spielt, dem Westen als antirussische Sturmspitze empfehlen zu können.

Unser Autor ist Historiker und Polonist.