RotFuchs 222 – Juli 2016

Gedanken zu einem Bild

Politischer Alltag einer
antihumanen Gesellschaft

Helmuth Hellge

Die Szene auf diesem Foto ist eindeutig. Wer allerdings der niedergeknüppelte, am Boden liegende Mann ist, darüber gibt das Bild, das aus den USA kommt, nicht auf den ersten Blick Aufschluß. Hat die Polizei endlich einen langgesuchten Schwerverbrecher gefaßt? Ist jener, der bewegungsunfähig auf der Erde liegt, ein Bankräuber? Oder gehört er zu einer Organisation der Rassisten, die schwarze Bürger terrorisierte? Hat er Frauen belästigt, Kinder entführt, Wertsachen gestohlen?

Nichts von alledem. Der dem Foto beigegebene Text von dpa lautet: „Eine Friedensdemonstration in Los Angeles wurde am 9. Januar 1971 von der Polizei auf recht unfriedliche Art beendet, nachdem die Demonstranten einen nicht genehmigten Weg eingeschlagen hatten.“ Der Mann, der hier brutal traktiert wird, mit verrenktem Arm und mit dem Gesicht im Straßenschmutz liegt, hat also nichts anderes getan, als für den Frieden zu demonstrieren – für den Frieden in Vietnam, im Nahen Osten und wo sonst auch immer. Er tat dies nicht im stillen Kämmerlein, sondern in der Öffentlichkeit. Hier wiederum nicht in einer Seitengasse, sondern vermutlich auf einer der Hauptstraßen. Und das genügte Nixons Knüppelgarde, um rabiat zu werden! Fußtritte, Stockschläge und Würgegriffe sind noch die leichtesten Waffen aus dem Arsenal der „Ordnungshüter“.

Der uniformierte Killer, der hier einen wehrlosen Menschen geradezu sadistisch knebelt und auf ihn einschlägt, kennt sich in noch ganz anderen Methoden zur Bekämpfung von „Unruhestiftern“ aus. „U.S. News & World Report“ weiß darüber folgendes zu berichten: „In Los Angeles … wird die Polizei nach militärischem Vorbild organisiert und hat einen mobilen Kommandoposten. Der Kreis Los Angeles hat einen Panzertransportwagen von sieben Tonnen erworben, der die Polizisten in Unruhegebiete bringen soll, und ist dazu übergegangen, schärfere Munition für die Gewehre der Polizei zu verwenden. Ferner experimentiert man mit Chemikalien in Form von Sprühmitteln und Schaum.“ Im gleichen Artikel ist von entnervenden Geräuschen, von Licht, das angebliche Aufrührer blenden soll, und vom Einsatz von Flammenwerfern die Rede.

Was ist das für eine Gesellschaft, in der die Unmenschlichkeit immer höher gezüchtet wird? Sprühmittel, die Erstickungsanfälle bewirken, nervenschädigende Geräusche, Flammenwerfer – alles zur Bekämpfung von Menschen bestimmt, die für den Frieden in der Welt, für Demokratie oder für Rassengleichheit eintreten. Und auf sie losgelassen wird die bewußt brutalisierte uniformierte Bestie – so wie wir eine auf diesem Foto kennenlernen.

Das Land, das nach Nixons Worten „auf gewissen Gebieten einzigartig“ ist, ist unbestritten führend auf dem Gebiet der Brutalisierung des Menschen. Es beginnt mit der „Erfindung“ sadistische Triebe fördernden Kinderspielzeugs – zum Beispiel einer Napalmausrüstung, mit der man im Spiel erlernen kann, wie Menschen napalmisiert werden – und endet in der pervertierten Dschungelkampf-Ausbildung junger Amerikaner für den Einsatz in Vietnam. Dazwischen liegt das riesige Gebiet der Meinungsmanipulierung durch Schundliteratur, Horrorfilme und blutrünstige Fernsehsendungen. So wird vor allem jungen Menschen ein Leitbild suggeriert, das seine wohl grauenvollste Umsetzung im barbarischen Vietnamkrieg des US-Imperialismus findet.

Ein amerikanischer Besatzermajor namens Thackerey kommentierte unlängst die Mordtat eines US-Soldaten an einem Ulmer Taxifahrer mit den Worten: „Wissen Sie, er kam gerade aus Vietnam zurück. Dort hat er sich wohl einen moralischen Knacks geholt.“

Der „moralische Knacks“ liegt ur-sächlich ganz woanders. Er liegt in der Unfähigkeit des imperialistischen Systems, allen Menschen ein freies, demokratisches und damit menschenwürdiges Dasein zu garantieren. Und in dieser anti-humanistischen Gesellschaftsordnung des Spätkapitalismus weiß die herrschende Klasse ihren Reichtum und ihre Macht nicht anders als durch Brutalität und Terror zu schützen. Das von uns wiedergegebene Foto spiegelt somit nichts anderes als den politischen Alltag dieses Systems wider, das auch nicht davor zurückschreckt, eine junge unschuldige Frau, eine mutige Kommunistin wie Angela Davis, physisch vernichten zu wollen.Auch der, der da zu Boden geschlagen wurde, hat begriffen, daß die systemimmanente Unmenschlichkeit nicht durch Gebete, nicht durch Beschwörungen, Petitionen und Appelle allein überwunden werden kann. Gleich ihm wissen unzählige demokratische Kräfte – nicht nur in seinem eigenen Land, sondern auf dem ganzen Erdball –, daß hier nur das persönliche Engagement, der Kampf gegen den Imperialismus hilft. So liegt zwar jener, der für Frieden und eine menschliche Gesellschaft demonstrierte, hier von Nixons Knüppelgarde niedergeschlagen im Straßenstaub, weil er – wie dpa beziehungsvoll schrieb – „einen nicht genehmigten Weg eingeschlagen hatte“. Und dennoch hat er den richtigenWeg beschritten, den Weg, der zu einer besseren, menschlichen Gesellschaft führt, zu Frieden, Demokratie und gesellschaftlichem Fortschritt.

Aus „Die Wahrheit“, 30./31.01.1971