RotFuchs 230 – März 2017

Proklamierte Menschenrechte und Realität

Beate Wesenberg-Schlosser

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)

Am 10. Dezember 2016 jährte sich zum 68. Mal die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen.

Diesen Tag nahm „Deutschlandradio Kultur“ zum Anlaß, mit den Gästen Christoph Strässer, 2014 bis 2016 Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik (zurückgetreten aus Protest gegen die Verschärfung des Asylrechts), sowie Markus Beeko, Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International, über das Thema „Was sind die Menschenrechte noch wert?“ zu diskutieren und Hörermeinungen zu kommentieren. Sinnvoller wäre es gewesen, die Frage zu stellen „Was sind Menschenrechte – welche werden in Deutschland wie verletzt?“ Ich fürchte allerdings, daran besteht bei den bürgerlichen Medien dieses Landes kein Interesse; sie thematisieren lieber Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern und klagen diese nur allzugern und lauthals an.

Deshalb sind meine Erwartungen hinsichtlich vermittelter Wahrheiten und historischer sowie politischer Hintergründe nicht besonders hoch. Die Auswahl der Gesprächspartner sowie der Kommentatoren läßt die „Linie“ und damit die Auftraggeber und deren Ziele erkennen – das geht um so besser, je mehr man von den Klassikern, aus der Geschichte und von den Machenschaften des Kapitals gelernt hat.

Der Moderator gab zu Beginn die Richtung vor: Man hörte Schlagworte wie „Rußland, China … USA“, „Putin, Trump und Erdoğan“ sowie diese Feststellung: „Doch den Appellen zum Trotz wurden im vergangenen Jahr in mehr als 120 Ländern Menschen gefoltert und mißhandelt.“

Strässer sagte dazu: „Natürlich haben wir Beziehungen auch mit Ländern, wo uns die Situation im Land nicht gefällt. Die Frage ist doch eher: Wie gehen die deutsche Politik und die Wirtschaft damit um?“ Ich darf den Satz modifizieren: Aber was interessiert uns das angesichts von Milliardengeschäften für jeden Bereich der deutschen Wirtschaft, der Vorteile für unser Leben, die uns menschenrechtsverletzende Ausbeutung garantiert?

Wie verlogen und doppelzüngig ist das vor dem Hintergrund der enormen Profite, der Beteiligung Deutschlands – in welcher Weise auch immer – an allen derzeitigen Kriegen, der Tatsache, daß auch dieses Land auf Menschen- und Völkerrecht pfeift und der Untergang der Menschheit in einem Dritten Weltkrieg droht.

Finden nicht regelmäßig Besuche deutscher Politiker und Firmenvertreter in anderen Ländern statt, mit dem Ziel der Entwicklung und Pflege wirtschaftlicher Kontakte, bei denen en passant (selbstverständlich nur pro forma) mit erhobenem Zeigefinger die „Bösewichte“ auf ihre menschenrechtsverletzenden „Fehltritte“ hingewiesen werden? Die Realität: Es wird zur Verletzung von Menschenrechten durch die Wirtschaft nicht nur Unterstützung gewährt, sondern auch Kriegsgerät geliefert. Was für ein wirkungsvoller Appell von den dazu berufenen Politikern und Vertretern des Kapitals!

Die AEMR wurde zu einer Zeit unterzeichnet, als es weder einen Krieg in Syrien gab noch die oben genannten Politiker! Aber das Thema dieser Sendung war abgesteckt, die Hörer diskutierten genau in diesem Sinne. Einmal mehr wurde erfolgreich von den Menschenrechtsverletzungen in diesem Lande abgelenkt! Wie war das mit dem Kehren vor der eigenen Tür?

Im folgenden eine kleine Auswahl von Menschenrechtsverletzungen in der BRD. Voranstellen muß ich, daß die BRD die UNO-Menschenrechtsdeklaration, welche das Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit und Wohnung festschreibt, unterzeichnet hat – jedoch sucht man im Grundgesetz (GG) beispielsweise ein Recht auf Arbeit vergeblich.

Art. 23 AEMR sagt in Absatz 1: „Jeder hat das Recht auf Arbeit …“

Art. 12 GG reduziert dieses Recht darauf, daß alle Deutschen das Recht haben, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Das Recht auf etwas und die Möglichkeit der Wahl sind aber grundverschiedene Dinge. Ein Heer von ca. 15 Millionen Arbeitslosen (AlG I, AlG II, Sozialhilfe, Praktikanten, sog. Aufstocker) sind Ausdruck dieses Unterschieds. Auch regelt Art. 23 AEMR den gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Unterschiede im Lohn, die durch das Geschlecht des „Arbeitnehmers“ bestimmt sind, wurden hier schon oft thematisiert. Und wie verhält es sich mit ausländischen Kollegen oder sogenannten Leiharbeitern?

Art. 22 AEMR formuliert ein Recht auf soziale Sicherheit, das jedem Menschen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte einräumt, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.

Einen Artikel, der diesen Inhalt umsetzt, gibt es im GG nicht. In Art. 20 (1) GG heißt es lediglich: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein … sozialer Bundesstaat.“ Wie es um die soziale Sicherheit, die Wahrung der Würde, der Möglichkeit der freien Entwicklung bestellt ist, zeigt sich im umfassenden Abbau in diversen Bereichen – Kürzung in der Gesundheitsversorgung, Schließung von Krankenhäusern, Schulen, kulturellen Einrichtungen –, im Bildungsprivileg, in permanenten Mietsteigerungen, im Rentenbetrug, in der systembedingten Altersarmut etc.

Artikel 25 AEMR beinhaltet den Anspruch auf eine Lebenshaltung, die die Gesundheit, das Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung,  notwendige Leistungen sozialer Fürsorge gewährleistet. Ein entsprechender Artikel findet sich im GG nicht. Die oben geschilderte Wirklichkeit sowie 335 000 Wohnungslose, unter ihnen 29 000 Kinder (Schätzungen der Bundesarbeitsgemein­schaft Wohnungslosenhilfe), die permanente Zunahme von Kinderarmut, auch der Kampf der Wirtschaft um Patente auf Lebensmittel sind Beweis dafür, daß Politik und Wirtschaft der BRD kein Interesse an der Umsetzung dieser Menschenrechte haben.

Diese Gegenüberstellung ließe sich beliebig, hinsichtlich weiterer Artikel der AEMR, fortsetzen, um zu erkennen, in welcher Weise und wie eklatant in der BRD Menschenrechte verletzt bzw. deren Verwirklichung gar nicht erst ermöglicht wird.

Nicht unerwähnt bleiben darf Art. 14 AEMR (Recht auf Asyl), der festschreibt, daß jeder Mensch das Recht hat, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen.

Das GG von 1949 regelt kein Asylrecht. 1993 wurde das Recht auf Asyl in Art. 16a (1) GG aufgenommen und in vier folgenden Absätzen bereits drastisch und, wie ich meine unzulässig, eingeschränkt. Zum „Schutze der BRD“ vor „unliebsamen und die Leitkultur gefährdenden Ausländern“ erfolgte mit dieser Änderung eine massive Rechtsbeugung dieses Menschenrechts. Weitere folgten bis in die Gegenwart. Hingewiesen sei auf die Verschärfung des Asylrechts, nicht zuletzt auf der Grundlage internationaler Verträge (z. B. Dubliner Übereinkommen, das permanent verschärft wird), auf die Situation der Menschen, die aus Not ihre Heimat verließen und über Monate in griechischen, italienischen, auch deutschen Sammelunterkünften, unter menschenunwürdigsten Bedingungen „leben“, auf das unbeschreibliche Leid dieser Menschen und die Tausenden Ertrunkenen im Mittelmeer.

Menschenrechtsverträge werden von Staaten unterzeichnet, wodurch sie an diese gebunden sind. Die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten neun grundlegende Menschenrechtsverträge. Durch ihre Ratifikation verpflichten sich diese Staaten, die entsprechenden Rechte innerstaatlich umsetzen.

Die hier dargelegten Beispiele sind durchaus keine abschließende Aufzählung der Menschenrechte, die die BRD im jeweiligen Vertrag unterzeichnete, die aber keinen, einen entstellten oder nur halbherzigen Eingang in das Grundgesetz fanden und die man in den weiterführenden Gesetzen daher vergeblich sucht.