RotFuchs 199 – August 2014

Wo 100 000 Ermittlungsverfahren
zu 289 Verurteilungen führten

Rechtsstaat oder Staat der Rechten?

Ulrich Guhl

Es wird behauptet, die BRD sei ein Rechtsstaat, dessen völlig unabhängige und apolitische Justiz sich allein einem ebenso unparteiischen Recht verpflichtet fühle. Dabei erfahren die jüngeren Generationen nichts mehr von jenem himmelschreienden Unrecht, das schon unmittelbar nach der Gründung des westdeutschen Separatstaates vielen seiner Bürger angetan wurde.

1978 veröffentlichte der heute an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) lehrende Jurist Alexander von Brünneck seine Untersuchung „Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968“. Von ihm selbst als eher zu niedrig bezeichnete Schätzungen ergeben etwa 125 000 Ermittlungsverfahren gegen Personen, die in den ersten zwei Jahrzehnten des Bestehens der BRD „kommunistischer Umtriebe“ verdächtigt wurden. Es genügte bereits das Anstecken einer Mai-Nelke oder die Teilnahme von Kindern an einem DDR-Ferienlager, um ins Visier der BRD-Justiz zu geraten.

Zwischen 6000 und 7000 „kommunistischer Umtriebe“ Bezichtigte wurden strafrechtlich belangt. Selbst der spätere BRD-Innenminister Werner Maihofer äußerte 1964, die Kommunistenverfolgung in der BRD würde „einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre machen“.

Für die Gejagten hatte das Urteil ernste Folgen: Entlassungen durch die Betriebe, Rauswurf aus Werkswohnungen, Streichung der Opferrenten für Verfolgte des Naziregimes. Häufig geschah das schon in der Ermittlungsphase. Obwohl es in der BRD offiziell keine Sippenhaft gibt, wurden auch Kinder Verfolgter von Schulen verwiesen. Kapitalistische Unternehmen tauschten untereinander „Schwarze Listen“ aus. Viele Naziverfolgte holte die Vergangenheit ein. Standen sie vor Gericht, dann trafen sie dort nicht selten „alte Bekannte“ aus faschistischer Zeit wieder. Man schätzt, daß etwa zwei Millionen frühere Mitglieder der Hitlerpartei NSDAP in Politik, Wirtschaft, Polizei, Bundeswehr und Justiz in Amt und Würden blieben oder schon bald erneut zum Zuge kamen. Als Experten auf dem Gebiet der Kommunistenjagd konnten sie da weitermachen, wo sie 1945 hatten aufhören müssen. Adenauer wollte nicht schmutziges Wasser weggießen, weil er annahm, kein sauberes zu besitzen. Seltsam: In der DDR fand man sauberes Wasser, weil man es nicht verunreinigten Quellen entnahm.

Keiner der in der BRD um die soziale Existenz Gebrachten oder ins Ausland Vertriebenen ist bis heute rehabilitiert worden. Kein Wort der Entschuldigung kam über offizielle Lippen. Dabei war diese juristische Treibjagd in Westeuropa ein einmaliger Vorgang, den man nur mit dem McCarthyismus in den USA vergleichen kann. Nach der Überreaktion des Staates auf die Studentenproteste und der Verfolgungswelle gegen die RAF setzte die Ära der Berufsverbote ein, bei der Willy Brandt den Ton angab. Das Geschehen erlangte eine so traurige Berühmtheit, daß man in Frankreich das deutsche Wort „Berufsverbot“ einfach übernahm.

Nach der Annexion der DDR verpflichtete der damalige BRD-Justizminister Klaus Kinkel die Teilnehmer des 15. Deutschen Richtertages zur „Delegitimierung“ des sozialistischen deutschen Staates. Dabei ging er davon aus, daß die BRD vor einer „gewaltigen Aufgabe“ stünde. Am Verfolgungswillen fehlte es nicht. Gegen etwa 100 000 frühere DDR-Bürger wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, die zu 1212 Anklagen und 289 Verurteilungen führten. Simpelste Rechtsbegriffe wie das Rückwirkungsverbot, der Schuldnachweis, Kausalität und Verjährung wurden mit allerhand juristischen Tricks und offener Rechtsbeugung außer Kraft gesetzt. Doch die angestrebte Generalabrechnung im Gerichtssaal stieß ins Leere.

Viele im Osten empfanden den Schauprozeß gegen den todkranken Erich Honecker als krassesten Ausdruck von Siegerjustiz. Zugleich entlarvte die äußerst geringe Zahl massenhaft angestrebter Verurteilungen die Lüge vom angeblichen Stasi-Terror. Gegen Angehörige des MfS wurden gerade einmal 20 Urteile gefällt, meist fragwürdiger Natur. In der DDR wurde nie ein Demonstrant erschossen, in einem Polizeirevier zu Tode geprügelt oder lebendigen Leibes verbrannt. Allerdings hinterzog auch keiner Millionensummen an Steuergeldern.

Die Kommunistenverfolgungen in der BRD sind nie ins kollektive Bewußtsein der Westdeutschen gedrungen. Bei ihnen stieß hingegen die Abrechnung nach 1990 eher auf Verständnis. Ihre Vorstellung von der DDR und den Kommunisten war im Ergebnis unablässiger Gehirnwäsche fern jeglicher Realität. Daran hat sich bis heute leider wenig geändert. Bei vielen Ostdeutschen liegen die Dinge anders. Aber auch hier hat oftmals Gleichgültigkeit Einzug gehalten.

Der pathologischen Kommunistenhatz sollte man fehlenden Verfolgungseifer der BRD-Justiz gegen Nazi- und Kriegsverbrecher gegenüberstellen. Zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 31. Dezember 1989 wurde im Westen gegen 98 042 Personen ermittelt. Man verurteilte aber lediglich 6,6 % der Beschuldigten. In Rechnung zu stellen ist auch die Tatsache, daß kaum ein Inhaftierter lange saß. Schon am 31. Dezember 1949, als die BRD gerade einmal ein halbes Jahr alt war, verabschiedete der Bundestag ein Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit für Taten, die in der Nazizeit begangen wurden. Vier Jahre später begnadigte man sämtliche Nazi-Täter (außer Mördern) per Verjährung. Darunter fielen auch Personen wie der Euthanasiearzt Borm, dem der Bundesgerichtshof 1974 nachträglich bescheinigte, bei 6652 Tötungen einen „Akt der Barmherzigkeit“ im Sinn gehabt zu haben. Übrigens klagte die BRD-Justiz auch keinen einzigen der 106 Richter und 179 Staatsanwälte des Freislerschen Volksgerichtshofes, der 5243 Todesurteile gefällt hatte, jemals an.

Die auffällige Diskrepanz zwischen der Hetzjagd auf angebliche oder tatsächliche Kommunisten und der Milde gegenüber Faschisten ist leicht zu erklären: Die alten Nazis wurden noch gebraucht.

Als „Unrechtsstaat“ darf hierzulande nur ein sozialistischer Staat bezeichnet werden. Der verordnete Antikommunismus war seit dem ersten Tag des Bestehens der BRD in deren braunen Genen angelegt. Die Justitia brauchte in diesem Fall nur eine Binde für das rechte Auge.

Noch am Beginn der 70er Jahre tröstete sich die großbürgerliche FAZ damit, daß im Südafrika der Apartheid zumindest „alles rechtsstaatlich“ vor sich gehe. Dem gegenüber war die DDR für Leute dieses Schlages ein „Hort des Unrechts“.

„Man gibt in unserem Staate der Gerechtigkeit meistens eine Form, die schrecklicher ist als die Ungerechtigkeit selbst“, schrieb der 1810 verstorbene Dichter Johann Gottfried Seume.

Ein rechter Staat, in dem auf den Rechten Linker herumgetrampelt werden darf, ist noch lange kein Rechtsstaat.

Sie haben mich gepeinigt,
weil ich zu denken wagte,
sie haben mich gesteinigt,
weil ich mein Denken sagte.

Weil ich es sang in Liedern
voll Wahrheit und voll Glut.
Sie konnten nichts erwidern,
daher die ganze Wut.

Michail Lermontow,
geboren am 15. 10. 1814,
gefallen im Duell am 27. 7. 1841