RotFuchs 209 – Juni 2015

Warum sich Bonn einem Friedensvertrag entzog:
Nur keine Reparationen!

SBZ und DDR zahlten die Zeche allein

Johann Weber

Griechenland fordert von der Bundesregierung Reparationen“ und „Duma-Abgeordnete wollen Reparationen von Deutschland“ lauteten Schlagzeilen, die mir zu Frühjahrsbeginn ins Auge sprangen. Mich freute es, daß das Thema von Deutschen erbrachter oder nichterbrachter Reparationen jetzt wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Warum? So besteht die Möglichkeit, auf die großen Leistungen der Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hinzuweisen, die sie auch auf diesem Gebiet vollbracht haben. Ich bin mir sicher, daß hier im Westen nur ganz wenige Leute darüber Bescheid wissen, welche enormen Lasten sie zu tragen hatten. Gewissermaßen zahlten die „Ostler“ die Zeche für ganz Deutschland.

Da ich davon ausgehe, daß auch frühere DDR-Bürger mit exaktem Zeitzeugen-Wissen in bezug auf diese frühe Nachkriegsphase immer rarer werden, habe ich ein paar Informationen zusammengetragen und deren Wertung vorgenommen. Gleich nach Kriegsende wurden die Altbankkonten in der SBZ (Gesamtwert 37 Milliarden Reichsmark) beschlagnahmt. Alles Buchgeld bei Sparkassen und Banken in Form von Sicht-, Termin- und Spareinlagen wurde gelöscht.

Bis 1953 hatten die Wiedergutmachungslieferungen, die an die UdSSR gingen, den Wert von 99 Milliarden DM. An einem Beispiel will ich diese Zahl verdeutlichen. Die Gesamtsumme des Grundkapitals und der Rücklagen aller Aktiengesellschaften in den drei Westzonen belief sich vor der Währungsreform, die am 20. 6. 1948 erfolgte, auf 14,644 Milliarden Reichsmark oder – am Tag danach – auf 14,363 Milliarden DM. Die im Osten erbrachten Reparationsleistungen machten also etwa das Siebenfache des Wertes aller Aktiengesellschaften im Westen aus. Es darf nie vergessen werden, für welche Schäden diese Unsummen aufzubringen waren. Eine Statistik darüber, was Nazideutschlands Strategie der verbrannten Erde in der Sowjetunion zur Folge hatte, soll das Bild deutlicher machen.

Auf der Internetseite von Klaus Wallmann sen. sind die materiellen Verluste aufgelistet.

  • 1710 Städte und mehr als 70 000 Dörfer wurden ganz oder teilweise eingeäschert.
  • Über sechs Millionen Gebäude wurden niedergebrannt, wodurch etwa 25 Millionen Menschen ihr Obdach verloren.
  • 31 850 Industriebetriebe fielen der Zerstörung durch die deutschen Faschisten zum Opfer. In ihnen waren zuvor etwa vier Millionen Arbeiter beschäftigt. Die Okkupanten demolierten oder stahlen 239 000 Elektromotoren und 175 000 Werkzeugmaschinen.
  • Ihrer Vernichtungswut fielen 65 000 km Eisenbahngleise und 4100 Eisenbahnstationen sowie 36 000 Post-, Telegraphen- und Fernsprechämter zum Opfer.
  • 40 000 Krankenhäuser und andere Heilanstalten wurden ebenso zerstört wie 84 000 Schulen, Technika, Hochschulen und wissenschaftliche Forschungsinstitute.
  • 43 000 öffentliche Bibliotheken teilten dieses Schicksal.
  • Die Faschisten verwüsteten und plünderten 98 000 Kolchosen und 1876 Staatsgüter (Sowchosen) sowie 2890 Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS).
  • Sie schlachteten, requirierten oder verschleppten 6 Mio. Pferde, 17 Mio. Stück Rindvieh, 20 Mio. Schweine, 27 Mio. Schafe und Ziegen sowie 110 Mio. Stück Geflügel nach Deutschland.

Klaus Wallmann fügt hinzu: „Das Leid der Obdachlosen, der Verhungernden, der Gequälten und Geschlagenen läßt sich nicht in Zahlen ausdrücken.“

Im Zusammenhang mit den von der SBZ/DDR erbrachten Reparationszahlungen müssen auch die Sonderleistungen für die Aufnahme von Übersiedlern aus Schlesien und dem Sudetenland gesehen werden. Das Gebiet der SBZ nahm 4,379 Millionen Menschen auf. Das waren 24,3 % der dortigen Gesamtbevölkerung. Dieser Anteil betrug in den Westzonen, wo 6,4 Millionen Übersiedler eine neue Heimat fanden, nur 14 %. Wichtig ist zu wissen, daß die Betroffenen fast ihre gesamte Habe hatten zurücklassen müssen. Dafür, daß sie sich eine neue Existenz aufbauen konnten, sorgten in der SBZ ganz wesentlich die dort schon ansässig gewesenen 13,5 Millionen Menschen. Solchen Belastungen unterlag keine Region der drei Westzonen. Und dennoch bauten die Menschen im Osten ihr Land wieder auf, ohne daß es zu Hungerrevolten kam, wie das in den Westzonen der Fall war.

Nur ein Beispiel aus Bayern: „Der Winter 1947/48 ist besonders hart. In der Britischen Besatzungszone drohen Hungeraufstände. Bayern hat angeblich zu wenig Lebensmittel geliefert. Der bayerische Militärgouverneur Van Wagoner ordnet vermehrte Lieferungen in die Britische Zone an und senkt für Bayern Fleisch- und Fettzuteilungen.“ Die Menschen in der SBZ, der späteren DDR, hatten keine Möglichkeit, sich der äußerst harten, aber berechtigten Reparationsleistungen, die jeden trafen, zu entziehen.

Anders verhielt es sich in den drei Westzonen. Ich zitiere Franz Joseph Strauß, der in seinem Buch „Die Erinnerungen“ auf Seite 257 genau beschrieb, warum Adenauer und er gegen einen Friedensvertrag waren:

„Bei allen Beratungen über den Deutschlandvertrag war von vornherein klar, daß dies kein Friedensvertrag sein konnte und durfte. Ein Friedensvertrag hätte nur von einer gleichberechtigt am Verhandlungstisch sitzenden gesamtdeutschen Regierung geschlossen werden können. Hinzu kam eine weitere wichtige Überlegung, die ich persönlich schon in den Gesprächen mit Josef Müller unmittelbar nach dem Krieg entwickelt hatte und die auch Konrad Adenauer nicht aus dem Auge verlor: Wenn wir einen Friedensvertrag schließen, dann verlangt man von uns Reparationen.

Da wir aber nicht bereit und nicht in der Lage sind, Reparationen zu zahlen, wollen wir auch keinen Friedensvertrag.

Die höhere und die niedere Mathematik der Politik trafen hier zusammen – das Offenhalten der deutschen Frage und das Vermeiden gigantischer Reparationszahlungen.

Sicherlich stand im Vordergrund die Überzeugung, daß ein Friedensvertrag nur mit dem ganzen Deutschland geschlossen werden könnte. Aber das handfeste Argument, daß mit dem Beginn von Friedensverhandlungen das Gespenst der Reparationen auftauchen mußte, wog ebenfalls schwer.

Angesichts dessen, was durch deutsche Kriegshandlungen und deutsche Kriegspolitik an Schäden entstanden war, hätten Reparationen den wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik um Jahre zurückgeworfen, ja unmöglich gemacht.“ So weit Strauß.

Mir ist durchaus bewußt, daß es einer gewissen Portion Zivilcourage bedarf, das hier zur Diskussion gestellte Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Ohne Zweifel werden sofort ganze Armeen aufmarschieren, um all jene als Kommunisten zu verunglimpfen, die den Leistungen der Menschen aus der SBZ und der DDR in puncto Reparationszahlungen Respekt zollen. Aber ich bin mir sicher: Das sind wir vor allem den dortigen Nachkriegsgenerationen schuldig, die oft bis an die äußerste Belastungsgrenze Gehendes vollbracht haben. Man darf ihren Einsatz nicht als eine Fußnote abtun.

Hier in Niederbayern habe ich keineswegs unbegrenzte Möglichkeiten, mich zu dieser Frage zu äußern. Aber als das Thema Reparationsleistungen der BRD an Griechenland in den Medien aufgeworfen wurde, sprachen mich meine Söhne – sie sind 32 und 36 – darauf an. In einer längeren Unterhaltung vermochte ich ihnen das von den Menschen im Osten auf diesem Gebiet Geleistete zu erklären. Sie stellten mir viele Fragen, weil ihnen dieser Sachverhalt völlig unbekannt war. Auch in meinem Bekanntenkreis spreche ich darüber. Als Sozialdemokrat werde ich auf die griechischen Reparationsforderungen oft angesprochen.

Aber in Ostdeutschland muß dieses Thema viel umfassender auf die Tagesordnung gesetzt werden. Wir dürfen unsere gemeinsame Vergangenheit nicht der millionenschweren DDR-„Aufarbeitungsindustrie“ und jenen Politikern überlassen, welche jeden, der sich sachlich zu Fragen der DDR-Geschichte äußert, unverzüglich als Kommunisten oder gar Stalinisten „einordnen“ und beschimpfen.

Seitdem ich das erwähnte Buch von Franz Joseph Strauß gelesen habe, steht für mich fest, daß zu „normalen“ DDR-Zeiten niemals eine Wiedervereinigung angestrebt worden wäre. Erhärtet wird mein Eindruck durch ein Interview, das der Kohl-Berater Horst Teltschik – von 1999 bis 2008 „Hausherr“ der Münchner Sicherheitskonferenzen – am 14. März 2015 dem Deutschlandfunk gegeben hat. Ich zitiere den entscheidenden Abschnitt, in dem er auf Befragen schildert, welche Tricks angewandt wurden, um einen Friedensvertrag zu verhindern.

„Gries: Der Zwei-plus-vier-Vertrag taucht, Herr Teltschik, zur Zeit in der europäischen Diskussion wieder auf, weil aus Athen Reparationsforderungen kommen, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen. Berlin antwortet mit Verweis auf den Zwei-plus-vier-Vertrag, all das sei vor vierundzwanzigeinhalb Jahren abschließend geregelt worden. Hat die Bundesrepublik ihrer Ansicht nach recht?

Teltschik: Ja, natürlich, das war auch unsere klare Zielsetzung.

Gries: Aber das Wort ‚Reparationen‘ taucht in diesem Dokument nirgendwo auf.

Teltschik: Nein. Das ist klar, aber …

Gries: Noch nicht einmal ‚Friedensvertrag‘.

Teltschik: Bewußt nicht, denn wir wollten ja keinen Friedensvertrag. Wir hatten ja schon im Herbst die Anfrage aus Moskau, ob die Bundesregierung möglicherweise zu einem Friedensvertrag bereit sein könnte. Wir haben … von vornherein abgelehnt – nicht zuletzt wegen der Gefahr von Reparationsforderungen. Und da wäre ja nicht nur Griechenland ein Fall gewesen, sondern bekanntlich war das Nazi-Regime mit über 50 Ländern dieser Welt im Kriegszustand. Und stellen Sie sich vor, wir hätten im Rahmen eines Friedensvertrages Reparationsforderungen von über 50 Staaten auf dem Tisch gehabt.“

Was Teltschik am 14. März im Deutschlandfunk eingestand, hat Karl-Eduard von Schnitzler in seinem Buch „Der rote Kanal“ bereits 1992 konstatiert: „Kohl zögert mit seiner Oggersheimer Weltweite die Einheit Europas hinaus. Denn ‚erst ein Friedensvertrag‘? Das könnte ihn teuer zu stehen kommen: Dann säßen mehr als 50 ehemalige Kriegsgegner am Verhandlungstisch über Deutschland zu Gericht, um Reparationsforderungen zu stellen, die dann in astronomischer Höhe ins deutsche Haus stünden. Ohrenzeugin Thatcher bestätigte: ‚Er will nicht.‘“

Karl-Eduard von Schnitzler hatte also schon 1992 klar beschrieben, daß die Alt-BRD alles unternimmt, damit bloß keine Reparationsleistungen von ihr zu erbringen sind. Er sprach die Wahrheit. Und warum wurde er von so vielen Menschen – auch in der DDR – geringgeschätzt oder nicht verstanden? Auf diese Frage antwortet er selbst in seinem Buch: „… ,40 Jahre DDR-Mißwirtschaft‘ ist inzwischen zu ‚40 Jahren Unrechtsstaat‘ eskaliert und dieser wiederum zu ‚40 Jahren Terrorstaat‘. ‚40 Jahre Unrecht, Unterdrückung, Versklavung, Lüge, Desinformation, Kulturfeindlichkeit‘ – alles Schlechte, Negative, Unerträgliche: und das ‚40 Jahre lang‘.

‚Wessis‘, die mit unerträglicher Ignoranz und Überheblichkeit zu wissen vorgeben, was alles falsch und schlecht war und wie es nun richtig und besser zu machen sei, sind noch eher verständlich. Wenn es aber ehemalige DDR-Bürger glauben und es ihnen nachschwätzen, so frage ich: Wo ist Euer Gedächtnis geblieben, wo die Erinnerung, wie es wirklich war?“

Ich selbst komme zu folgender Erkenntnis: All die Wiedervereinigungsbekundungen sämtlicher aufeinanderfolgender Regierungen und Politiker der BRD waren nur eine Täuschung der eigenen Bevölkerung, aber besonders eine Irreführung der Menschen in der DDR.