RotFuchs 187 – August 2013

Ein großer Mime, Regisseur und Filmemacher zieht Bilanz

Schauspieler – ein Traumberuf?

Rudi Kurz

Künstler sind Individualisten. Schauspieler in ganz besonderem Maße. Das macht der seltsame Beruf. Heute ein Bettler, morgen ein Edelmann. Heute der strahlende Jüngling, morgen der hinfällige Greis. Nachmittags im Atelier der Verbrecher mit der Strumpfmaske, vier Stunden später Prinz Hamlet auf der Bühne.

Allerdings auch: heute auf dem roten Teppich, nächste Woche auf dem Arbeitsamt.

Im Gegensatz zu anderen künstlerischen Berufen muß der Mime nicht nur seinen Mund, sondern auch sein Herz und seine Seele aufreißen.

Kürzlich nannte dies ein Kollege „Kärrnerarbeit und eine selbstzerstörerische Form von seelischem Exhibitionismus“. Und das Tag für Tag, Abend für Abend. Rückhaltlos und mit voller Leidenschaft alles zu geben, wessen er mit seiner Begabung und seinem Talent fähig ist.

Ich spreche hier nicht von drei bis vier Dutzend Ausnahmen, den sogenannten Stars, die allabendlich in schöner Regelmäßigkeit über die Röhre ins Wohnzimmer kommen und dadurch einen hohen Bekanntheitsgrad haben, sondern von den rund 15 000 Schauspielern in der Bundesrepublik, von denen, laut Presse, nur etwa 20 Prozent ein festes Einkommen haben. Es gebe leider auch ein gewisses Schauspielerproletariat, von dem viele die Hoffnung niemals aufgeben, doch noch irgendwann als große Begabung entdeckt zu werden.

Nirgends gibt es so viele Enttäuschungen wie in der Kunst.

Etliche meiner Kollegen, darunter auch sehr bekannte und hochtalentierte, hatten aus persönlichen, politischen oder auch finanziellen Gründen in den 70er Jahren bedauerlicherweise die Seiten gewechselt und den Sprung ins kühle Westwasser gewagt.

Einige wenige haben eine steile und spektakuläre Karriere gemacht. Andere waren dagegen nicht auf Rosen gebettet. In manchen ihrer Erinnerungen wird ehrlich davon berichtet. Alle hinterließen damals schmerzhafte emotionale Lücken, weil sie bis dahin unsere Freunde, Kollegen und Weggefährten waren auf dem schweren und mühsamen Weg zu einer ehrlichen und humanen Kunst, von uns und dem Publikum hochgeschätzt.

Wunden, die man sich gegenseitig zugefügt hat, sind inzwischen geschlossen und vernarbt. Was bleibt, ist der Phantomschmerz. Einer der damaligen Protagonisten sprang in einer Lesung für einen erkrankten Kollegen ein. Es war in unserer Nähe. Ich hatte ihn zwar 30 Jahre nur ab und zu via Bildschirm gesehen, war aber trotzdem überrascht, wie jung, vital und kraftvoll der über 70jährige las und agierte. Ich fühlte – für mich selbst überraschend – so etwas wie meine frühere Sympathie und Respekt für ihn aufkeimen.

Da geschah etwas, was mich beinahe aus der Fassung brachte. Unvermittelt und übergangslos fing er plötzlich an zu singen. Ganz leise: „Spaniens Himmel …“ Er hatte ein spitzbübisches Lächeln im Gesicht und strahlte seine Zuhörer, die alle nicht weniger überrascht waren als ich, dabei an. Er wurde von Strophe zu Strophe immer lauter, und allmählich summten und sangen alle mit. Außer mir. Ich war so entsetzt und überrascht, daß ich beinahe aufspringen und gehen wollte. Meine Frau, die das spürte, hielt mich fest.

Ich brauchte auf dem Heimweg lange, um meinen Unmut wieder loszuwerden. Ich hätte ihm gern gesagt, daß ich ihm das Recht, Lieder zu singen, die uns so viel bedeuteten, erst zubilligen würde, wenn er sie auch öffentlich wie hier in Ostberlin am Ku’damm oder Tauentzien singen würde.

Vorbei, abgehakt, ich bin ihm fast wieder gut.

Er und seine Frau, eine von mir hochgeschätzte Kollegin, gehörten immerhin nicht zu den vielen Theatertrupps, die in den neunziger Jahren durch die deutschsprachigen Lande zogen, kleine zugkräftige Stücke spielten und anschließend ihren Gagenanteil aus dem Schuhkarton, der als Abendkasse herhalten mußte, zugeteilt bekamen.

Unsere Künstler wurden nach ihren jeweiligen Fähigkeiten und Leistungen entlohnt. Sie waren keineswegs meßbar an heutigen Spitzengagen, aber so angemessen, daß jeder nach seiner Fähigkeit menschenwürdig leben konnte und nicht gezwungen war, Türklinken zu putzen. Wir hatten an unseren qualifizierten Ausbildungsstätten – Theaterhochschule Leipzig, Schauspielschule „Ernst Busch“ und Hochschule für Film und Fernsehen – nur hochbegabte Studenten ausgebildet, wie wir sie für unsere 50 bis 60 Theater, die DEFA und das Fernsehen benötigten.

Wir haben keine glitzernde Scheinwelt geschaffen, sondern uns bemüht, Schillers „Bühne als moralische Anstalt“ zu begreifen und auch als unsere Zielstellung zu betrachten.

Ich halte es für ein großes Glück, mit hervorragenden Vertretern unserer Gattung an Theater, Film und Fernsehen tätig gewesen zu sein.

Es war vor 60 Jahren. Ich war Oberspielleiter und Chefdramaturg in Altenburg, gastierte aber schon in Weimar und Leipzig, da delegierte man mich überraschend in die Hauptstadt. Ich sollte als sogenannter Intendantennachwuchs einige Monate bei den Chefs der Berliner Bühnen hospitieren. Ich meldete mich nacheinander bei Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater, bei Bert Brecht und Helene Weigel am Berliner Ensemble, bei Fritz Wisten im Theater am Schiffbauerdamm, später Volksbühne, und bei Maxim Valentin am Maxim-Gorki-Theater.

Allen war gemeinsam, daß sie Konzentrationslager, Emigration oder beides durchlebt und durchlitten hatten. Sie waren Theaterpersönlichkeiten mit reicher Erfahrung, deren Kunst auch durch ihre Erlebnisse geprägt wurde.

Ich hatte mit jedem von ihnen ein tiefgehendes Eingangsgespräch und erhielt Gelegenheit, nicht nur alle Proben und Vorstellungen zu besuchen, sondern mich auch in allen Leitungsfragen bei entsprechenden Mitarbeitern kundig zu machen. Daß ich dies weidlich nutzte und Erfahrungen sammelte, die für meine weitere künstlerische Arbeit unschätzbar waren, versteht sich. Ich kam mit beinahe allen Kollegen zusammen, mit denen ich zum Teil später auch selbst arbeiten durfte. Da gab es die Ost- und Westemigranten, die Dagebliebenen und die wieder aufgetauchten alten UFA-Schauspieler, die jungen Genies und die älteren Seiteneinsteiger, nicht zu vergessen die österreichische Garde um Wolfgang Heinz und Karl Paryla mit ihrem Anhang.

Die Proben der Regisseure wie Brecht, Engel, Langhoff, Wisten, Vallentin und anderen waren in ihren handwerklich-künstlerischen Unterschiedlichkeiten verblüffend. Gleichwohl beinhalteten sie eine große Einheitlichkeit in der künstlerischen Zielsetzung und in der humanistisch-philosophischen Grundeinstellung.

Es waren prall mit Ereignissen gefüllte erlebnisreiche Wochen, die sowohl meine Arbeit als auch meine Haltung eindringlich geprägt haben. In vielem bis heute. Es sind wenige Schauspieler, mit denen ich in ungefähr 40 Theaterinszenierungen, sehr vielen Fernsehspielen, Filmen und Serien nicht in Berührung gekommen bin. Mit einer gewissen Wehmut gedenke ich meiner ehemaligen Studenten, die ich schon lange Zeit überleben durfte.

Allen Kollegen, Freunden und Mitarbeitern dankbare Erinnerung! Sie waren mir vor und hinter der Kamera gute Weggefährten und wichtige Helfer bei unserer oft aufwendigen und mitunter auch gefahrvollen Arbeit.

Theater, Film und Fernsehen sind Medien mit verschieden großen und unterschiedlich gewichtigen Einzelleistungen, die aber erst im Kollektiv, in der Bündelung der Beiträge, ein Gesamtwerk ergeben.

Für mich war jeder Mitarbeiter ein Star. Und ist es heute noch!