RotFuchs 186 – Juli 2013

„Schwarzbauten im Sozialismus“

Wolfgang Giensch

Für mich liegt ein innenpolitisches Kernproblem der 1989/90 erlittenen Niederlage in unserem Unvermögen, das in der DDR zweifellos massenhaft vorhandene Potential an Schöpfertum so zur Entfaltung zu bringen, daß damit die angestrebte Steigerung der Arbeitsproduktivität erreichbar geworden wäre.

Zunächst möchte ich eine Lanze für all jene DDR-Bürger brechen, welche von sich aus, also ohne jeglichen Auftrag „von oben“ und außerhalb der staatlichen Pläne, gesellschaftlich nützliche Vorhaben verwirklicht haben. Sie brauchten dabei viel Mut, Ideenreichtum, aber auch manche List, um solche Projekte unter den Bedingungen strenger Planung realisieren zu können. Scherzhaft möchte ich die Objekte, um die es in meinem Beitrag geht, als „Schwarzbauten der DDR“ bezeichnen.

Es war und ist für manchen westlichen Beobachter bis heute erstaunlich, welch hohes Maß an Einfallsreichtum und Kreativität ein großer Teil der DDR-Bürger unter der vielgeschmähten „Diktatur von Partei und Staat“ an den Tag gelegt hat. Zum Glück gibt es noch etliche Zeitzeugen, die das anhand eigener Erfahrungen belegen können.

Dieses Schöpfertum hatte verschiedene Ausdrucksformen. Einerseits gab es eine Vielzahl von Initiativen im Ringen um die ganz normale tägliche Normerfüllung oder -überbietung am Arbeitsplatz. Sie wurde staatlicherseits durch Geldprämien, Medaillen, Orden und Titel gewürdigt. Andererseits entwickelte sich auch noch eine weitere DDR-spezifische Ausdrucksform dieses Phänomens. Ich meine jene Erfindungsgabe, die dazu diente, auftretende Schwierigkeiten bei der Realisierung der staatlichen Pläne; bei der Überwindung von Engpässen in der Material- und Rohstoffversorgung sowie unzureichende Maßnahmen zur Reparatur und Erneuerung des Maschinenparks durch Eigeninitiative zu beheben oder zu ergänzen.

Nach dem Motto „Not macht erfinderisch!“ gab es hierzu eine Vielzahl kleiner und größerer Beiträge, die im Endeffekt der DDR-Wirtschaft zugute kamen. Im Laufe der Jahre bildete sich überdies eine ganz andere, aber ebenfalls DDR-typische Form von persönlichem Engagement heraus. Die straffe, bisweilen sehr unflexible Planwirtschaft brachte es zwangsläufig mit sich, daß im Verlauf einer Planperiode nur solche Aufgaben in Angriff genommen und verwirklicht wurden, die in die jeweiligen Plandokumente aufgenommen worden waren. Wünsche und Bedürfnisse, die darüber hinausgingen oder erst später entstanden, mußten mindestens bis zum Beginn des nächsten Planungszeitraumes zurückgestellt werden. Ausnahmen konnten nur mit großem politischem und ökonomischem Kraftaufwand durchgesetzt werden. So blieben oftmals gute Ideen, Vorschläge und Initiativen von Bürgern, Arbeitskollektiven und kommunalen Organen ungenutzt, wurden auf Eis gelegt oder gar verworfen.

Doch nicht alle DDR-Bürger fanden sich damit ab. So ergab es sich, daß einzelne Projekte, die durchaus eine gewisse gesellschaftliche Bedeutung, zumindest aber Gewicht für eine bestimmte Personengruppe, eine Kommune oder einen Betrieb besaßen, auch außerhalb des Planes in Angriff genommen wurden.

Obwohl das also eigentlich gar nicht statthaft war, verwirklichte man vielerorts eigentlich nicht vorgesehene, aber interessante und großen Anklang findende Vorhaben. Eben die „Schwarzbauten des Sozialismus“. Sie wurden oftmals sogar mit Wissen und Tolerierung, manchmal mit Unterstützung und in Einzelfällen sogar auf Initiative örtlicher Funktionäre errichtet. Problematisch war dabei natürlich die Beschaffung der erforderlichen Mittel, insbesondere von Baumaterialien, da diese ja den Planaufgaben vorbehalten blieben. Also mußten sie von dort „abgezweigt“ werden. Das aber ging nur illegal oder zumindest inoffiziell. Offen gesagt: Ohne „Vitamin B“ – wie in der DDR Beziehungen genannt wurden – war da nichts zu machen. All dies erforderte von den Beteiligten Mut und Ideenreichtum.

Den Menschen, die solche Projekte verwirklichten, gebührt nachträgliche Anerkennung. Damals hätten sie diese wohl kaum erwarten dürfen. Titel wie „Aktivist“, „Verdienter Aktivist“ oder sogar „Held der Arbeit“ wurden nämlich nur bei Übererfüllung der offiziellen Planaufgaben des jeweiligen Betriebes verliehen. Solche Akteure aber wirbelten an mehr oder weniger unsichtbaren Frontabschnitten. Selten wurden sie erwähnt oder gar gewürdigt, obwohl sie auf das Geschaffene stolz sein konnten, zumal sie es ja nicht für sich, sondern für die Gemeinschaft und letztlich für ihre Republik getan hatten.

Wie dem Geschilderten zu entnehmen ist, entstand vor allem in der Arbeiterklasse der DDR ein ausgeprägtes und vielgestaltiges Schöpfertum, das bis heute nachwirkt und von westlichen Arbeitskollegen nicht selten mit Verwunderung und Unverständnis, aber auch mit Hochachtung registriert wird.